Verraten Nicht zum ersten Mal lässt die humanistische Öko-Partei ihre Grundsätze beim Regieren hinter sich. Muss das so sein? Robert Habeck hatte mal einen anderen Plan
Die Parteispitze fliegt völlig losgelöst über der Parteibasis
Collage: Der Freitag, Material: Midjourney
Das Ergebnis sei eigentlich „eine Zumutung“, sagt Annalena Baerbock, die Zustimmung zu dem EU-Kompromiss zur Abschottung gegen Geflüchtete habe sie „zerrissen“. So lautet die interessante Stellenbeschreibung für das Amt als Bundesaußenministerin, die Baerbock beim „Kleinen Parteitag“ der Grünen am Wochenende zum Besten gab: „Es ist mein Job, mir genau das zuzumuten.“
Wer mutet hier wem etwas zu? Wer sich angesichts dieser Aufführung in Zynismus flüchten wollte, könnte fragen, ob die grüne Ministerin demnächst ein Solidaritätsschreiben aus Lesbos oder Libyen erwartet, in dem gestrandete Migrantinnen und Migranten ihrem Mitgefühl Ausdruck verleihen, weil sie sich zumutet, das mitzuverantwort
in dem gestrandete Migrantinnen und Migranten ihrem Mitgefühl Ausdruck verleihen, weil sie sich zumutet, das mitzuverantworten, was den Geflüchteten zugemutet wird. Aber so hat es Baerbock natürlich nicht gemeint, sie wollte etwas anderes ausdrücken: Wer regiert, muss auch Unangenehmes mittragen (und sich einreden, es beinhalte wenigstens kleine Verbesserungen, ließe sich ergänzen). Und da die Grünen nun mal Regierungspartei sind, ist die Sache sozusagen alternativlos.Nein, alternativlos ist es nicht. Aber wer sich mit politisch aufmerksamen und prinzipiell fortschrittlichen Menschen unterhält, stößt immer wieder auf ähnliche Argumente: Natürlich sei der Asylkompromiss weit entfernt von grünen Überzeugungen. Auch das Heizungsgesetz sei wirklich nicht das Gelbe vom Ei, oder gerade doch: viel zu gelb, denn zu sehr habe die FDP darin herumgepfuscht, mit mehr oder weniger offener Unterstützung des eigentlich ja roten Bundeskanzlers. Beim Klimaschutzgesetz, das stimme schon, sei es auch nicht viel besser, beim Verbrennungsmotor auch nicht.Aber, die Frage folgt auf dem Fuß: Was sollen sie schon machen, die Grünen? Die absolute Mehrheit haben sie bekanntlich nicht, Koalition ist Koalition, und das heißt nun mal: Kompromiss. Immer noch besser ein bisschen Fortschritt mit den Grünen als gar kein Fortschritt ohne sie. Mehr zu wollen, sei ja sehr schön, aber unrealistisch.Kleine Grüne, große AsylpolitikEs ist der Sound, der auch im eher wohlmeinenden Spektrum des politischen Journalismus zu finden ist. Zum Beispiel kürzlich in der taz: „Eine deutsche 15-Prozent-Partei wird die Grundrichtung der europäischen Asylpolitik kaum ändern können. Wer das nicht mehr aushält, müsste die Regierung verlassen. Damit ließe man die Menschen auf der Flucht aber erst recht allein.“ Oder vor ein paar Wochen in der Frankfurter Rundschau, deren Leitartikler erst von der „Letzten Generation“ verlangte, ihre „polarisierenden“ Aktionen einzustellen, um dann fortzufahren: „Aber was dann? Am besten wohl noch eine Regierungsbeteiligung der Grünen, die dort immerhin in kleinen Schritten Klimaschutz betreiben können.“Natürlich liegen solche Einschätzungen nicht ganz daneben, wenn sie für sich das Gütesiegel des Realismus beanspruchen, zumal ja stimmt, dass „die anderen auch nicht besser“ sind. Ohne Zweifel ist es ein Teil der politischen Wirklichkeit, dass es für konsequenten Klimaschutz oder eine humanitäre Migrationspolitik derzeit keine parlamentarischen Mehrheiten gibt. Aber sind nicht gerade die Grünen einst angetreten, diesem resignativen Realismus etwas entgegenzusetzen?Zwei Fragen sind mit dem Hinweis auf die vermeintlichen Zwänge der machtpolitischen Realität noch lange nicht beantwortet: die eher pragmatische, ob die Grünen wirklich ausreizen, was auch unter diesen Mehrheitsverhältnissen möglich wäre; und die grundsätzliche, ob sich das Handeln gerade dieser Partei nicht an ganz anderen Maßstäben zu orientieren hätte als an den Spielräumen, die die Elf-Prozent-Partei des fossilen Kapitalismus – im Volksmund: FDP – gelten lässt. Ob nicht vielmehr die Rasanz des Klimawandels oder das Leiden von 110 Millionen Geflüchteten in aller Welt als Richtschnur gelten muss. Und, zugespitzt: Ist es wirklich der einzige Weg zum Erfolg, um fast jeden Preis zu regieren?Robert Habeck: Mögliches machbar machenWas sagt Robert Habeck, der grüne Wirtschafts- und Klimaminister, dazu? Anders als manche Kommentatoren, die ihn unterstützen, überschreitet der Philosoph im Regierungsamt sehr wohl die engen Möglichkeitsräume der Koalition – jedenfalls rhetorisch. Vergangene Woche im Bundestag verteidigte er zwar die kläglichen Kompromisse in Sachen Klima. Aber dem Mantra des Pragmatismus, dass Politik ja nun mal die „Kunst des Möglichen“ sei, widersprach er mit Habeck’scher Formulierungskunst: Für ihn sei „Politik die Kunst des Möglichmachens“, und: „Wir sollten nicht aufhören, dafür zu arbeiten, das Mögliche immer wieder zu erweitern und machbar zu machen.“ Schon zuvor hatte er den Ludwig-Börne-Preis, den er vor knapp zwei Wochen als Auszeichnung für seine politische Rhetorik entgegennahm, als „Auftrag“ interpretiert, der „mahnt, sich auf die Wirklichkeit einzulassen – um sie zu ändern“.Ganz ähnlich übrigens die Parteivorsitzende Ricarda Lang, die nach dem Kleinen Parteitag im Deutschlandfunk erläuterte, was sie aus der Asyldebatte „mitnehmen würde“: „dass wir, glaube ich, bei diesem Thema den Anspruch auf gesellschaftliche Mehrheiten, auf Hegemonie nicht aufgeben dürfen und dafür noch stärker einsteigen müssen“. Was nicht nur „bei diesem Thema“ eine ziemlich gute Idee wäre.Es irrt allerdings, wer solche klugen Sätze als Appell an die eigene Partei versteht, beim Kampf um gesellschaftliche Hegemonie für die eigenen Ideen auch mal ins Risiko zu gehen. Es täuscht sich, wer glaubt, nun werde Habeck zu der (Selbst-)Kritik zurückfinden, die er zum Beispiel 2018 dem Spiegel anvertraute: „Die Politik hat die Verbindung zur Realität verloren, weil sie nicht radikal genug agiert.“Es ist vielmehr so, dass Robert Habeck glaubt, den Weg des „Möglichmachens“ in seinen eineinhalb Amtsjahren bereits erfolgreich eingeschlagen zu haben. Stolz verwies er im Bundestag darauf, dass die „beschlossenen und eingeleiteten“ sowie die zuletzt verabredeten Initiativen der Ampelkoalition die „Klimaschutzlücke“ von 1.100 auf 200 Millionen Tonnen Kohlendioxid reduzieren würden. Als hätte er selbst das je für ausreichend gehalten. Aber dann kam der Minister zum wahren Kern der grünen Rechtfertigungslehre: Zugeständnisse, auch solche unter weitgehender Verbiegung eigener Überzeugungen, werden auf höchst problematische Weise als zwingender Ausdruck demokratischer Überzeugungen interpretiert.Die Debatte macht das grüne HeizungsgesetzIm Zentrum dieser Denkfigur steht das, was der Klimaminister im Bundestag als „gesellschaftliche Realität“ beschrieb. Die Geschichte geht so: Unter dem Eindruck der Angst vor Gasknappheit sei im vergangenen Winter beschlossen worden, den Anfang vom Ende des fossilen Heizens auf 2024 vorzuziehen. Dann habe die Regierung es geschafft, die akute Bedrohung abzuwenden. „Und das hat die Debatte verändert. Deswegen verändert sich jetzt auch der Gesetzentwurf.“Auf gut Deutsch: Wenn sich „die Debatte“ ändert, hat die Politik zu folgen. Als wäre „die Debatte“ ein Naturereignis, dem politisch Handelnde unweigerlich ausgeliefert wären. Aber das ließe sich auch anders beschreiben: Wenn die Leute nicht mehr so viel Angst vor der Fortsetzung des fossilen Irrwegs haben, weil die Heizung noch funktioniert; und wenn Gaslobby-Parteien und Springer-Medien die amateurhafte Vorbereitung eines Gesetzes durch den Minister erfolgreich zur Stimmungsmache nutzen – dann besteht demokratisches Handeln darin, die eigene Position bis fast zur Unkenntlichkeit aufzuweichen. Als würde der Klimawandel sich an der momentanen Stimmungslage in der deutschen Bevölkerung orientieren.Selbstverständlich ist an dem Argument mit „der Debatte“ nicht alles falsch: Den Umbau ohne klare soziale Flankierung anzugehen, wie Habeck das getan hat, treibt ja die weniger Begüterten bis weit in die gesellschaftliche Mitte zu Recht auf die Palme. Aber das wäre ein Argument, die Wärmewende ökologisch und sozial zu gestalten, und nicht, sie auf FDP-konforme Wasserstoff-Fantasien zu reduzieren.Der ehemalige Shootingstar der Grünen scheint gar nicht zu merken, wie nah er damit denjenigen ist, die sich mit publizistischer Hilfe des Boulevards auf zwar verständliche Ängste vor Veränderung beziehen, die sie allerdings selbst befeuert haben. „Klimaschutz geht nur mit den Menschen, aber nicht gegen sie“, heißt der dazugehörige Standardsatz (hier beispielhaft von der CDU-Politikerin Gitta Connemann).In den wohlgesetzteren Worten der Börne-Preis-Rede von Robert Habeck: „In einer Demokratie bedeutet das, stets dafür zu arbeiten, dass Veränderung vom Souverän, von den Bürgerinnen und Bürgern, getragen ist; von der Mehrheit, aber auch von denjenigen, die, obgleich sie sich nicht durchsetzen konnten, dennoch Teil der öffentlichen Aushandlung waren.“Lieber die Koalition zerreißen?Das ist im Grunde ein sehr schönes Bekenntnis zum „herrschaftsfreien Diskurs“ frei nach Jürgen Habermas. Der allerdings ist zwar ein hehres Ziel, aber – angesichts eines teilweise von Lobby-Aktivitäten und manipulativer Interessenpolitik geprägten Debattenklimas – keineswegs Realität. Wer also das von Habeck skizzierte Demokratieverständnis ernst nähme, müsste es um einen Hinweis ergänzen: Das Ansinnen, im öffentlichen Diskurs um Hegemonie für die eigenen Überzeugungen zu ringen, muss nicht nur am Anfang stehen, bevor schon mit Kompromissen kalkuliert wird. Sondern wenn das nicht gelingt, bedarf es der Bereitschaft, auch mal Konsequenzen zu ziehen.Das würde bedeuten, im Zweifel auf das Regieren zu verzichten oder diese Möglichkeit (wie es die FDP stets implizit tut) wenigstens in den Raum zu stellen. Es ist schon eine seltsame Verdrehung der Verhältnisse, wenn der CDU-Vorsitzende nach dem Erfolg der Kampagne gegen das Heizungsgesetz einen Satz ausspricht, der in keiner Parteigeschichte mehr Bestätigung erfahren hat als in der grünen: „Opposition wirkt.“Die mit fast unendlicher Kompromissbereitschaft verbundene Fixierung auf das Regieren mit der Aura demokratischer Vorbildhaftigkeit zu schmücken, ist intelligent gedacht, geht aber über eine Beschönigung machtfixierter Politik nicht hinaus. Wenn das Regieren die Grünen so zerreißt wie ihre Außenministerin, dann könnte es helfen, sich auf den Weg zurück zu sich selbst zu machen. Der Demokratie würde es auch nicht schaden.