Spurensuche „Ich bin so gierig nach Leben“ ist mehr als eine Biografie über die deutsche Schriftstellerin Brigitte Reimann. Man liest ein Panorama ihrer Zeit
Ihr ganzes Leben ist sie eine Suchende geblieben. Am 21. Juli wäre Brigitte Reimann 90 Jahre alt geworden
Foto: Gerhard Kieslinger/BPK
Was ist wohl das Geheimnis dieser umfänglichen Biografie, dass sie zu einer reichlichen Woche unablässigen Lesens verführt? Es ist die Spurensuche im Leben einer faszinierenden Frau, die Brigitte Reimann zweifellos gewesen ist. Über sie wird indes nicht das erste Mal geschrieben. Am 21. Juli wäre sie 90 Jahre alt geworden. Am 20. Februar 1973 ist sie gestorben. Mit nicht mal vierzig. Ach, die früh Verstorbenen: Im Bedauern reizen sie die Fantasie. Was hätte aus ihnen noch werden können!
Aber dies ist eben mehr als eine Biografie. Detailliert dem Lebensweg seiner Protagonistin folgend, erlaubt sich der Autor immer wieder Abschweifungen, die sich als zusätzlicher Reiz erweisen. Carsten Gansel, geboren 1955 in Güstrow und seit 1995 Professor f&
ofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Gießen, weiß, was literarisches Schreiben bedeutet, und er setzt Theorie in Praxis um. So ist es auch seine erzählerische Gabe, die einen bei der Lektüre hält. Mit leichter Hand vermag er aus immensen Kenntnissen zu schöpfen. Was vielleicht „nur“ als Reimann-Biografie geplant war, erweiterte sich unter diesem Blickwinkel zu einer Geschichte der DDR und ihrer Literatur, versehen mit einem Anmerkungsapparat von 85 klein gedruckten Seiten. Es sei versprochen: Jede, jeder wird Interessantes für sich entdecken. Das Buch baut eine Brücke (der Freitag 5/2023) zwischen unterschiedlichen Erfahrungswelten – von Jüngeren und Älteren, von Menschen in Ost und West.Dass es unterschiedliche Prägungen gibt, kann kaum anders sein. 40 Jahre lang trafen an der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten zwei politische Systeme aufeinander. Als in diesem geopolitischen Ringen die eine Seite die Waffen streckte, die UdSSR die DDR aufgab, hinterließ der Kalte Krieg dennoch seine Spuren. Der Beitritt zur BRD vermochte das Erbe der DDR nicht zu integrieren, im Gegenteil. So konnten „politisch-moralische Urteile der Gegenwart relativ ungefiltert auf die Interpretationen der DDR-Geschichte durchschlagen“, wie es im Buch heißt. Vor diesem Hintergrund überzeugen gerade die Tagebücher von Brigitte Reimann „durch die Kraft des Authentischen“. Aus der ganz persönlichen Sicht einer selbstbewussten, neuen Erfahrungen aufgeschlossenen Frau erhalten wir Einblick in die Alltagskultur jener Zeit.Autorin der KriegsgenerationImmer wieder staunt man, wie gründlich er recherchiert, wobei es vor allem auch an seiner Schreibtechnik liegt, dass er mit seinem Text so packt. Mal rückt er ganz nah an Brigitte Reimann heran, indem er sie selber durch ihre Tagebücher und Briefe sprechen lässt, und verändert dann seine Perspektive, indem er das Erzählte in größere Zusammenhänge bringt. Wenn von Brigittes Geburt am 21. Juli 1933 die Rede ist, kommt eben auch die Herkunftsgeschichte ihrer Familie zur Sprache, in der es genügend zu lesen gab. Erfahren soll man, dass an deutschen Schulen schon ab 1933 der Hitlergruß verbindlich war und die Schulbibliotheken nach „ungeeigneten“ Schriften durchforstet wurden. An die Pogrome wird erinnert, die in den Holocaust mündeten, und an den Schriftsteller Walter Kaufmann, der Brigitte Reimann erzählte, wie er als jüdisches Kind auf einen Kindertransport erst nach England, dann nach Australien kam. Wie er immer noch an die Ermordung seiner Eltern denken muss und warum er sich 1953 für ein Leben in der DDR entschied, erfuhr Carsten Gansel im persönlichen Gespräch. Überhaupt scheute er nicht Zeit noch Mühe, um Menschen zu treffen, die Brigitte Reimann noch kannten. Er selbst war zu jung dafür.Auf einem der Fotos im Buch sieht man sie 1943/44 in der „Jungmädel-Kluft“; es gefiel ihr beim BDM. Der Vater war 1943 einberufen worden und befand sich bis 1947 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Dazu hat Carsten Gansel im Moskauer Militärarchiv geforscht, wie er es bereits für seine aufschlussreichen Bände über Heinrich Gerlach und Otfried Preußler getan hatte. Dort fand er aber unter dem Namen Willi Reimann einen völlig anderen Mann. Bis zum Ende des Krieges hatte die Tochter an einen deutschen Sieg geglaubt. Da ist der Vergleich zu anderen Autorinnen und Autoren der „Kriegsgeneration“ interessant. Zum Beispiel Christa Wolf, mit der sie später eng befreundet war. Auch eine Verbindung zur Gruppe 47 stellt sich her.Wie konnte in der DDR eine „neue Schule“ entstehen, während 40.000 Lehrer fehlten? Was hatte es mit der „Brechung des Bildungsprivilegs“ auf sich? Detaillierte Beschreibungen von Brigitte Reimanns Schulzeit, ihrem Ehrgeiz schon damals, Schriftstellerin zu werden. Bereits als Zwölfjährige hat sie Tagebuch geführt, und es ist ein Jammer, dass sie Ende 1959 einen Großteil davon verbrannte. Liebschaften immer wieder: Dieses Mädchen, diese Frau hat bis zu ihrem Tode die Energie des Erotischen gebraucht. Machte sie damit Minderwertigkeitsgefühle wett, die sie seit ihrer Erkrankung an Kinderlähmung quälten? Wie sie sich für schöne Männer begeistern konnte, erleben wir beim Lesen, und wie Klugheit sie anzog. Mehrere Ehen, die nicht hielten. Erstaunlich, wer alles aus DDR-Schriftstellerkreisen und -Künstlerkreisen zeitweilig mit ihr liiert war.Ich bin so gierig nach Leben – einen passenderen Titel für seine Biografie hätte Carsten Gansel nicht wählen können. Fast minutiös geht er diesem Leben nach mit seinen ganz privaten Höhen und Tiefen, die indes oft auch einen Bezug zum Gesellschaftlichen hatten. Literatur hatte in der DDR einen hohen Stellenwert. Förderung war allerdings mit Erwartungen verbunden. „Schreiben Sie nur, was Sie wirklich denken“, hatte Anna Seghers der jungen Autorin ans Herz gelegt. Auf welche Weise ihr das in ihren frühen Erzählungen gelang – Die Frau am Pranger (1956), Das Geständnis (1960), Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963), um nur einige zu nennen –, ist hier zu lesen.Man erlebt, wie ihr unvollendeter Roman Franziska Linkerhand entstand, wie sie von ihrer Krebserkrankung erfuhr, der sie schreibend trotzte. Vor allem auch in ihren postum veröffentlichten Tagebüchern beeindruckt der persönliche, aufrichtige Ton, die Unmittelbarkeit, die Echtheit. Ernsthaftigkeit: Nicht lediglich veröffentlichen wollte sie, obgleich sie auch Geld verdienen musste, sondern Wirkung erzielen, im Sinne einer anderen, besseren Gesellschaft. Da war der Westen eben für sie keine Alternative.Sie sah sich als „Arbeitstier“Wenn sie scheiterte, traf sie das schwer, doch sie sah sich als „Arbeitstier“ und stand wieder auf. Auch Texte, die von Verlagen nicht angenommen wurden, werden hier betrachtet. Wenn man von Zensur in der DDR spricht, vergisst man ja leicht, dass auch künstlerische Gründe zur Ablehnung führen konnten. Wobei es ein Dilemma für schöpferisch tätige Menschen war, dass ihre Mitsprache in gesellschaftlichen Angelegenheiten eingefordert war, sie sich fürs Ganze mitverantwortlich fühlen sollten, echter Einspruch aber unerwünscht blieb.Die alten Männer an der Spitze des Staates fürchteten permanent um ihre Macht. Größer als zugegeben war ihre Abhängigkeit von der Lage in Moskau. Stalin, Chruschtschow, Breschnew – bei jedem Wechsel dort versuchte die DDR-Führung, Balance zu halten, um nicht selbst mit ausgewechselt zu werden, zumal es auch interne Machtkämpfe gab, welche im Buch Erwähnung finden: 17. Juni 1953, 1956 die Enthüllungen des XX. Parteitags der KPdSU (es gab damals noch Tausende deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR), die Aufstände in Polen und Ungarn, die Kriminalisierung von parteiinternen Reformversuchen, Mauerbau, „Neue ökonomische Politik“ und „Bitterfelder Weg“, 11. Plenum ….Biermanns Ausbürgerung hat Brigitte Reimann schon nicht mehr erlebt. In wechselnden Großwetterlagen war politischer Durchblick zu üben, um Eigenständigkeit zu bewahren. „Die spezifische ostdeutsche Mentalität bildete sich gerade im Wechselspiel zwischen Individuum und staatlichen Instanzen heraus“, schreibt Carsten Gansel und zeigt das detailliert an den Reaktionen von Brigitte Reimann. Dabei hat er sich auch in Akten des MfS vertieft. Dass die aufmüpfige Autorin überwacht wurde, verwundert nicht. Schlimm war es, wie sich Nahestehende dafür hergegeben haben. Wobei „das utopische Projekt des Aufbaus einer neuen Gesellschaft“ für Brigitte Reimann immer wichtig war. Ihr ganzes Leben ist sie eine Suchende geblieben, die „Freiheit in jeder Hinsicht“ als ihr Recht verstand. Ganz jung tritt sie einem aus diesem Buch entgegen, wie eine Freundin, mit der man sich über alles beraten kann.Placeholder infobox-1