Edith Anderson in der Uniform der Pennsylvania Railroad, 1943
Foto: Edith Anderson Estate
„Du bist ja völlig gerädert, Schwester!“, brüllt der Schaffner in Edith Andersons A Man’s Job, „geh nach Hause.“ Aber die Protagonistin Toby braucht das Geld. Wie müde sie auch war nach 18 Stunden Arbeit, sie musste sich für den nächsten Einsatz eintragen lassen. Im Büro des Fahrdienstleiters herrschte wie immer ein solches Gedränge, dass es aussichtslos schien. Sie hört eine junge Schaffnerin flehen: „Jennings! Ach, Jennings, bitte! Bitte, Jennings! Ich will doch nur acht Stunden! Nicht zehn! Nur acht! Bitte, Jennings, ich sterbe (…) Ich hab die ganze Woche ohne jedes bisschen Schlaf gearbeitet.“
Später würde Toby die Frau in einem stinkenden Nachtzug voller sitzender, stehender, schlafen
stehender, schlafender, torkelnder Soldaten zusammenbrechen sehen. Und hinterher wusste Toby kaum, „was in diesen vierundzwanzig Stunden passiert war (...) Sie ließ dauernd etwas fallen, stopfte Fahrkarten, Umsteigekarten, Bargeld, Quittungsblocks, Abrechnungsbogen, Stundenzettel und Lochzange, wenn sie sie gebraucht hatte, hastig in verschiedene Taschen, vergaß, wo sie steckten (…)fand sie schließlich doch, versuchte den Steuersatz für eine Nachlösekarte zu kalkulieren, verrechnete sich. Raste zur Tür, wenn sie sah, dass der Zug bereits in den nächsten Bahnhof eingelaufen war, stellte entsetzt fest, dass die Tür nicht aufging.“ Und kurz zu Hause, wäscht sie ihr verdrecktes weißes Hemd (sie soll eigentlich sechs davon haben), bekommt es nicht trocken und verliert beinahe ihren Job.Diese unvergessliche Szene im Buch hat sich Edith Anderson, geboren 1915 in New York, nicht ausgedacht. Von 1943 bis 1947 ist sie selber Schaffnerin bei der Pennsylvania Railroad gewesen. Gleich nach der High School war sie der Kommunistischen Partei der USA beigetreten und hatte für die Tageszeitung Daily Worker gearbeitet, bis man einen Mann auf ihre Stelle setzte. Sie lernte den deutschen Kommunisten Max Schroeder (urspr. Schröder) 1943 kennen, den sie im Jahr darauf heiratete. Als Schroeder nach Deutschland zurückkehrte, wollte er sie zur Seite haben. Er bot ihr die Chance, Schriftstellerin zu werden. 1947 zog sie über Paris nach Berlin.Ihr neu aufgelegter Roman ist eine Entdeckung. Unter dem Titel Gelbes Licht ist er 1956 im Aufbau-Verlag erschienen, wo ihr Mann zuvor Cheflektor wurde. Das Buch war in der Lage, alle Illusionen zu zerstören, die man sich im Osten vom „goldenen Westen“ machte. Der Einband lockte mit einem lustigen Bild: Eine Eisenbahnerin und ein Eisenbahner bändeln miteinander an, aber das ist nur eine kurze Episode. Das Titelbild von A Man’s Job zeigt hingegen eine völlig erschöpfte Frau.Dass Frauen während des Zweiten Weltkriegs die Jobs der Männer übernehmen mussten, wird hier nicht als Heldinnengeschichte inszeniert. Was den Roman heute noch so bedeutsam macht, ist die hellsichtige Kritik an Strukturen der Unterdrückung, die gleichsam aus sich selbst heraus funktionieren. In bestürzender Genauigkeit führt Edith Anderson damals bereits vor Augen, was die Pulitzer-Preisträgerin Isabel Wilkerson 2020 in ihrem Buch Kaste. Die Ursprünge unseres Unbehagens analysierte: Ein ausgeklügeltes Konkurrenzsystem unter den Arbeitenden trübt derart den Blick, dass die eigentlichen Profiteure kaum wahrgenommen werden. Gleich in der ersten Szene, als sechs neue Schaffnerinnen einem männlichen Einführungskurs unterworfen sind, zeigt sich dieser Mechanismus.Wie sie einander taxieren, wünscht sich jede einen guten Platz in der Hackordnung, ohne dass klar ist, wie weit sie von vornherein hinter den Männern zurückstehen. „Die Bruderschaft, die Gewerkschaft der Eisenbahner, fürchtete um die eigene Arbeitsplatzsicherheit. Frauen würden ihnen die guten Jobs wegnehmen – die Fernstrecken, die hoch bezahlt wurden und relativ leicht zu bewerkstelligen waren – und wären von den schlechten Jobs wie Gepäck- oder Rangierdienst befreit.“Die Frauen sind ja auch deshalb so „gerädert“, weil die regulären Strecken bereits in männlicher Hand sind. Im Büro des Fahrdienstleiters kämpfen sie um Einteilung zum Bereitschaftsdienst und werden gegeneinander gehetzt. Was sie sich alles anhören müssen! „Komm her, Schätzchen! Willste nich’ auf meinen Schoß?“ Immer wieder schmerzt das Wort „Nigger“ beim Lesen. Der Verlag hat es nicht getilgt. Rassismus, Sexismus, Klassismus bilden ein giftiges Gebräu. Die Zugführer „stammten größtenteils von Engländern, Iren, Schotten oder Deutschen ab, und das waren ihrer Meinung nach die einzigen Nationalitäten, die überhaupt zählten“.Die Kraft des Buches liegt im analytischen Scharfsinn der Autorin und in ihrer Fähigkeit, die dialogreiche Handlung detailliert, lebendig wie einen Film vor uns ablaufen zu lassen. Intrigen, die sie selbst erlebte, Auseinandersetzungen, die bis heute nicht beendet sind. Die „Bruderschaft“ ist schließlich bereit, auch Frauen aufzunehmen. Man erlebt, wie sie sich solidarisieren. Indem Präsident Truman allerdings die Eisenbahnen dem Amt für Kriegstransportwesen unterstellte, erstickte er Arbeitskämpfe schon im Keim. Mit dem Ende des Krieges werden Frauen wieder zurück an den Herd gedrängt. „Die Vorstellung, dass eine 32 Jahre alte Jüdin aus New York 1947 freiwillig nach Berlin zog, ist verrückt“, schreibt die Autorin Carolin Würfel im Nachwort. Noch dazu tauschte sie im Osten der Stadt „vermeintlich freie Welt und Alles-haben-Können gegen Trümmer und Mangel ein“.Doch ohne dies wäre es fraglich gewesen, ob es diesen Roman jemals gegeben hätte. Ebenso wie Der Beobachter sieht nichts, erschienen 1972 im Verlag Volk und Welt, ihr Tagebuch zweier Welten, das schon lange vergriffen ist. Oder die vielen anderen Texte, auch Kinder- und Jugendbücher, Übersetzungen, Hörspiele und Memoiren, die in der DDR herauskamen. Anderson starb 1999 in Berlin.Was für eine selbstbewusste, kluge Frau! Wie gern hätte ich sie kennengelernt, wie wichtig wäre ihre Stimme auch heute.Placeholder infobox-1
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