Genderfluidität in der DDR 1975: Turbulentes Rübenfest
Zeitgeschichte Christa Wolf, Günter de Bruyn und andere beschreiben in Edith Andersons 1975 in der DDR erschienenen Anthologie „Blitz aus heiterem Himmel“, inwieweit sich ihre Figuren in die Lage des anderen Geschlechts versetzen können
Vielleicht zwei LPG-„Bäuer*innen“? Faschingsball in der DDR, 1956
Foto: Jürgen Wagner/Timeline Images/dpa
Zu den wenigen US-Bürgern, die in der DDR lebten, gehörte Edith Anderson. Als bildungshungriges jüdisches Arbeiterkind in der Bronx geboren, sammelte sie Lebenserfahrungen als Schaffnerin bei der Pennsylvania-Railroad und als Kulturredakteurin beim kommunistischen Daily Worker. Als Ehefrau des Exilanten und späteren Leiters des Aufbau-Verlages, Max Schröder, kam sie 1947 nach Berlin. Obwohl es ihr gelang, selbst zu publizieren, ärgerte sie sich, vom hochintellektuellen Freundeskreis immer nur als exotisches Anhängsel ihres Mannes wahrgenommen zu werden. Nach dessen frühem Tod 1958 emanzipierte sie sich als Autorin und Kulturvermittlerin für Künstler aus den USA.
1967 verbrachte die von Heimweh Geplagte ein Jahr in New York, dessen Widerstand
1967 verbrachte die von Heimweh Geplagte ein Jahr in New York, dessen Widerstandskultur kaum noch Kommunisten prägten. Vorwiegend waren es Afroamerikaner, Natives und Feministinnen. Nach ihrer Rückkehr fand ihr von der DDR-Obrigkeit skeptisch beurteiltes, 1972 erschienenes Reportagebuch viel Widerhall beim Publikum. Von dem auf private Geschlechterverhältnisse fokussierten US-Feminismus inspiriert, regte Anderson einige Autorinnen und Autoren an, für eine Anthologie Geschichten mit magischer Geschlechtsverwandlung zu schreiben.Emanzipation in der DDR-LiteraturIn die Lage des anderen Geschlechts versetzt, sollten die Figuren am lebendigen Leibe erspüren, wie weit das Staatsziel Gleichberechtigung erreicht war. Bislang hatte die DDR-Literatur Frauenemanzipation vorrangig in der Arbeitswelt gezeigt. Das geplante Projekt sah das als gegeben an und erweiterte die Perspektive, indem man sich den Alltagsbeziehungen der Geschlechter zuwandte. Damit gehörte das Buch Blitz aus heiterem Himmel zu den Pionierprojekten feministischer DDR-Literatur. Es lag dem Hinstorff Verlag 1971 vor, kam aber erst 1975 heraus. 1973 war Sarah Kirschs Die Pantherfrau erschienen, 1974 Irmtraud Morgners Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz. 1977 folgte Maxie Wanders Guten Morgen, du Schöne. In der Anthologie widmet sich Günter de Bruyn der Diskriminierung von Menschen mit normabweichendem Geschlechtsverhalten. Er schildert, dass ein zur Frau gewordener Mann in Frauenkleidern in seinem Büro kaum Irritationen erzeugt – wohl ein optimistischer Reflex auf die 1968 in der DDR erfolge Annullierung des Paragrafen 175, womit es keine Strafandrohung bei homosexuellen Handlungen mehr gab. Aber die Erwartungen an den Verwandelten verändern sich. Er/Sie soll nun auch Blumen gießen und Kaffee kochen. Der Bürochef macht eines Tages Avancen, die fast zur Vergewaltigung führen. Die Akzeptanz geschlechtlicher Fluidität ist gewachsen, aber patriarchale Ansprüche können sich nach wie vor Bahn brechen. Der verweiblichte Held möchte wieder zum Mann werden, was aber die Rückverwandlung seiner zum Mann verwandelten Ehefrau voraussetzt. Diese möchte aber Mann bleiben und lebt bereits mit einer Frau. Christa Wolf steuert die Geschichte einer jungen Wissenschaftlerin bei, die freiwillig die Geschlechtsumwandlung für eine ambitionierte Forschung ihres Chefs akzeptiert. Dieser will die psychosozialen Effekte erkunden. Die seelische Verwandlung zum Mann bleibt unvollständig, das Befinden zwiespältig, die Rückkehr zur Weiblichkeit eine Option. Sie wird schließlich durch männliche Verführungskunst erzwungen, die der Tochter des Chefs gilt. Erschrocken bricht dieser das Experiment ab. Interessant ist die scharfe Kritik an Allmachtsvorstellungen der Wissenschaft – auch im Sozialismus ein Ideologem. Ein LPG-Bauer ist plötzlich seine FrauDerb-komödiantisch geht es in Gotthold Glogers Novelle zu. Ein LPG-Bauer findet sich eines Morgens im Bett in seine Frau verwandelt wieder, während die Frau seine Gestalt und Rolle angenommen hat: „Das Weibliche war über mich gekommen wie eine große Flutwelle und hatte den Mann in mir fortgespült mit allem, was dranhing.“ Innerlich grollend, aber leichthändig, bewältigt er nun ungewohnte Hausdienste, Kinderversorgung und weibliche Feldarbeit. Erhaltene patriarchale Instinkte lassen ihn schlussfolgern, dass seine und die vermutete Geschlechtsumwandlung in anderen LPG-Familien auf die Kaperung der Leitung der Genossenschaft durch die Frauen zielt. Beim turbulenten Rübenfest der Frauen kommt es zu heftigen Irritationen und letztlich zur Rückverwandlung der Eheleute. Aber der Protagonist behält das peinigende Gefühl, dass im Dorf ein allgemeiner Geschlechtertausch stattgefunden hat. Edith Anderson wartet mit einer Novelle über vielfältige Facetten der Liebe auf: Alyda vermisst die geistige Beziehung zum verstorbenen Mann, kann sich aber erst ohne ihn sexuell entfalten. Eine hocherotische Beziehung zum verheirateten Florian gelingt, weil er in ihr das Gegenstück zu seiner ihn allseitig unterstützenden Gattin sieht – den starken, unabhängigen Menschen: „Ich sehe dich nicht hauptsächlich als Frau an“, sagte er. – „Aber ich bin eine!“ – „Ich sehe dich als menschliches Wesen an.“ – „Ist denn beides unvereinbar?“ Widersprüchliches bleibt als besonderer Reiz. Die Beziehung zerbricht, als Florians Frau wieder arbeitet und auch eine außereheliche Beziehung hat. Im Liebesschmerz wird Alyda physisch zum Mann. Sie akzeptiert die Verwandlung und wirbt um eine lange bewunderte Freundin. Die will sich aber nicht von ihrem Freund trennen. Dass charakterstarke Frauen im vorsozialistischen bürgerlichen Milieu emanzipiert sein konnten, grundiert die Geschichte Rolf Schneiders über einen von solcher Mutter traumatisierten Mann. Er wird zum Patriarchen. Mehrere sexuell erfüllte Ehen scheitern, bis er auf eine ebenfalls charakterstarke Frau trifft, die seine Geschlechtsumwandlung herbeiwünscht, damit er die Erniedrigung der weiblichen Rolle begreift. Die Einsicht erfolgt zu spät. Beim Versuch der Rückverwandlung entsteht ein unscheinbares Insekt. Knaben müssen die Kniffe zur Erzeugung weiblicher Lust bereits in der Schule lernenSarah Kirschs Geschichte Blitz aus heiterem Himmel gab der Anthologie den Titel. Als sich die junge Katharina die patriarchalen Ungleichgewichte in der Beziehung zum Fernfahrer Albert bewusst macht, wird sie blitzartig zum Mann Max. Albert nimmt die Verwandlung gelassen auf. Max wird sein Beifahrer. Man liebt sich unverdrossen weiter. Karl-Heinz Jakobs schließlich erzählt von einer in Quedlinburg errichteten matriarchalen Republik, deren Verfassung nicht nur die Ehe, sondern auch die Liebe verbietet. Zuvor hatte man nur Wert darauf gelegt, die „Expropriateure zu expropriieren“, aber zugleich die sich immer mehr verschärfende Form gegenseitiger psychischer und physischer Versklavung beibehalten. Verordnet ist nun die radikale Umkehr der auf Frauen und Männer bezogenen Projektionen. Die Wahl der Sexualpartner obliegt allein den Frauen, häufiger Wechsel ist erwünscht, Vaterschaft soll nicht feststellbar sein. Knaben müssen die Kniffe zur Erzeugung weiblicher Lust bereits in der Schule lernen und dann öffentlich um ihre Rangfolge konkurrieren. Das Ansehen der Frauen wächst, wenn Alter und Hässlichkeit zunehmen. Ein zu einem Schäferstündchen Gerufener erscheint im blitzenden Fantasiekostüm eines Popstars, welches „das Genital anschaulich und vorteilhaft“ hervorhebt. Inmitten der Zärtlichkeiten kommt ein kleiner Streit auf, ob die matriarchale Republik mit oder ohne Gewalt gegründet wurde. Dann erinnert man sich, einst ein Liebespaar gewesen zu sein. Die Frau schlägt vor, diesen Zustand wiederherzustellen. Da das nur heimlich möglich wäre, endet die Geschichte mit ängstlichem Zögern des Mannes. Für den Westen zu sperrigDass die Ehe ein Auslaufmodell ist, nicht aber die vielfältigen Formen der Liebe, durchzieht alle Texte. So auch den abschließenden grandiosen Essay der längst vergessenen Literaturkritikerin Annemarie Auer. Ohne schwer verständliche Theoreme, dank eines großen historischen und ethnografischen Wissens, entfalten sich hier bereits die heute mit Judith Butler verknüpften Erkenntnisse der Gendertheorie.Wahrscheinlich erwies sich Andersons Anthologie für westliche Verhältnisse als zu sperrige Utopie. Wer hätte Emanzipationsprozessen in der LPG Glauben geschenkt? Erst 1980 erschien bei Luchterhand eine von Wolfgang Emmerich herausgegebene, abgespeckte Variante unter dem Titel Geschlechtertausch. Enthalten sind nur die Texte der im Westen bereits bekannten Christa Wolf und Sarah Kirsch sowie die in Irmtrauds Morgners berühmt gewordenem Beatriz-Roman enthaltene Episode einer Geschlechtsverwandlung. Äußerst provokant fand sie in Moskau statt und war für Blitz aus heiterem Himmel zunächst abgeschmettert worden. Placeholder infobox-1
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