DDR-Literatur von A bis Z: Heiß diskutiert und überhaupt nicht wertlos
Lexikon Sie waren nach dem Mauerfall rasch verschwunden und wurden als bedeutungslos abgetan: Bücher von Autor:innen aus der DDR. Klar, es gibt nicht „die“ DDR-Literatur. Und dennoch erleben alte Autor:innen eine Renaissance
Von unschätzbarem Wert: Schriften von Autor:innen aus der DDR
Foto: Bettina Flitner/Laif
A wie Aula
Nicht ganz zufällig heißt Hermann Kants Debütroman von 1965 Die Aula. Die Aula ist nämlich ein Ort, an dem Bilanz gezogen und ein Blick in die Zukunft geworfen wird. Die Arbeiter- und Bauernfakultäten beziehungsweise deren Schließung sind das grundierende Thema von Kants Werk. Der Text lässt sich als hochschulpolitische Bilanz lesen. Die Arbeiter- und Bauernfakultäten zielten darauf ab, einen „historisch längst überfälligen Gleichstand“ zwischen den bürgerlichen und proletarischen Klassen herzustellen. Gleichwohl kann man den Versuch, die Hochschule der Gegenwart für unterrepräsentierte Zielgruppen zu öffnen, als hochschulpolitisches Vermächtnis Kants feiern. Die Stichworte „Inklusio
worte „Inklusion“ und „Diversität“ sind ohne das Textgedächtnis der DDR-Literatur nicht zu verstehen. Die Figur des/der Studierenden prägt die DDR-Literatur von Günter de Bruyns Preisverleihung bis zu Christa Wolfs Der geteilte Himmel. Die Geschichte des DDR-Hochschulromans ist noch zu schreiben. Markus SteinmayrHermann Kant: Die AulaB wie BrechtNimmt man es genau, so gehört aus Brechts Werk relativ wenig zur Literatur der DDR. Doch wir alle wissen, woraus Brechts literarisches und kulturelles Vermächtnis eigentlich besteht: aus der Gründung des Berliner Ensembles und der Theorie des Lehrstücks. Das Lehrstück, so Brechts einprägsame Formulierung, lehrt dadurch, „daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird“. Die Aufführungspraxis, so Brecht weiter, muss für den „Darstellenden lehrhaft“ sein. Jeden Tag können wir neoliberale Lehrstücke sehen, zum Beispiel, wenn Christian Lindner über den Bundeshaushalt spricht oder Industrieverbände Pressekonferenzen abhalten. In diesen Lehrstücken geht es um die Vorbereitung auf weitere Sparmaßnahmen oder um Experimente mit den Narrativen des Lobbyismus. Ob diese Lehrstücke dann „lehrhaft“ für die Darstellenden sind?MSBertolt Brecht: LehrstückeE wie ErwachsenwerdenEs ist so eine Sache mit dem Begriff „Generation“. „Wendekinder“, Zonenkinder, Eisenkinder – schlagkräftige Namen für autobiografische Romane. Die letzten Kinder der DDR, beim Mauerfall zwischen acht und 16, schreiben über ihre Prägungen, ihre Kindheit und Jugend im verschwundenen Land. Sie verbindet das Erlebnis, von heute auf morgen in einem anderen System klarkommen zu müssen. Für manche war es Befreiung, sie kamen an in der BRD, andere schafften es nicht. Diese Erfahrungen der Wende- und Nachwendezeit, die Orientierungslosigkeit in den 1990ern, die Anfälligkeiten junger Ostdeutscher für radikale Gedanken, Daniel Schulz schreibt davon in Wir waren wie Brüder. Aufbruch oder Verlust von Strukturen – eine Ambivalenz, die sich durch die Nachwendebücher zieht. Und in Simone erzählt die Journalistin Anja Reich von einer Jugendfreundin, mit der sie in Ostberlin erwachsen wurde und die rasante Nachwendezeit erlebte. Sie war in der DDR privilegiert, dann verliert sie sich. Warum? Maxi Leinkauf Daniel Schulz: Wir waren wie BrüderAnja Reich: SimoneF wie FrauenMaxie Wander, ursprünglich Wienerin, gab Frauen in der DDR eine Stimme. Aus ihren 19 Tonbandinterviews ist der Band Guten Morgen, du Schöne entstanden. Und sorgte für Furore. Von der 1977 im DDR-Verlag Der Morgen erschienenen Ausgabe verkauften sich im ersten Jahr 60.000 Exemplare. Theater spielten ihre Texte (→ Wiederentdeckt). Auch vielen Westleserinnen sprachen diese Frauenprotokolle, die von Sehnsüchten handeln, ihrer Arbeit, ihren Männern, Sex, Familie und der Frage, wie man leben will, aus der Seele. Die Frauen waren selbstbewusst. „Dies ist ein Buch, dem jeder sich selbst hinzufügt“, schreibt Christa Wolf im Vorwort. „Beim Lesen schon beginnt die Selbstbefragung.“ Im Wendeprozess schien dieses Selbstbewusstsein verloren gegangen, im Westen wollte man von gleichberechtigter Teilhabe bis in die 2000er hinein wenig hören. MLMaxie Wander: Guten Morgen, du SchöneK wie KrusoRobinsonaden haben es mit nachgeholten, unmöglichen oder verweigerten Neuanfängen zu tun. Lutz Seilers Robinsonade Kruso aus dem Jahr 2014 erzählt von einer Neugründung der DDR aus dem Geist der Freiheit. Seilers Kruso ist damit der nachgeholte, unmögliche oder verweigerte Anfang einer anderen DDR, die es nicht hat geben sollen, dürfen oder können. Held:innen von Robinsonaden sind Siedler:innen oder Besiedler:innen einer zumeist leeren Insel oder Enklave, auf der und in der es um die Expansion kultureller und politischer Normen geht, die bereits in den Köpfen existieren. Aus diesem Grund ist Kruso ein Pioniersiedler. Kruso gründet die Kolonie Klausner, die als Alternative zur DDR auftritt. Erdverbundenheit, das macht die Differenz Land/Meer im Text sehr deutlich, ist das Prinzip des Siedlers. Das Meer, das die Bewohner und Esskaas auf Hiddensee vom Festland, von der Freiheit und der Insel trennt, ist ein Nicht-Ort und somit nicht besiedelbar. Seilers Text ist politische Philosophie als Literatur. MSLutz Seiler: KrusoL wie Lyriker:innenDas Gedicht, so Reiner Kunze, sei der „blindenstock des dichters“. Das erinnert an Günter Eichs poetologische Einlassung: „In jeder gelungenen Zeile höre ich den Stock des Blinden klopfen, der anzeigt: Ich bin auf festem Boden.“ Es mag als Akt des Sehen-Wollens verstanden werden, dass Kunze, 1977 in die BRD übergesiedelt, 1990 unter dem Titel Deckname „Lyrik“ Auszüge seiner Stasi-Akte veröffentlichte. Lyrik ist eine selbstreflexive, deutungsoffene, formal unerschöpfliche Gattung. Und so ist auch die Lyrik der DDR ein vielstimmiges Raunen, in dem Wolf Biermanns Systemkritik im Liebesgestus – „Eins in die Fresse, mein Herzblatt!“ – neben poetischen Landschaftsbildern erklingt. Als Teil des Ensembles ragt Helga M. Novaks Lernjahre sind keine Herrnjahre heraus, und wie es ist, „das Lied vom guten und schlechten / Deutschen zu singen“. Liane SchüllerReiner Kunze: LyrikHelga M. Novak: Lernjahre sind keine HerrejahreP wie PapenfußBert Papenfuß (geboren 1956 in Stavenhagen) war einer der begnadeten jungen → Lyriker:innen des Prenzlauer Bergs, die ab 1980 an nicht öffentlichen Orten wie Ateliers und Privatwohnungen ihre Gedichte unter die Menschen flüsterten und schrien. Seine Lesungen wurden oft von Punk- und Avantgardemusikern begleitet, seine Texte erschienen in der DDR in Samisdat-Zeitschriften und Künstlerbüchern. Ab Ende der 1980er durfte er auch in der BRD auftreten. Sein erster Lyrikband erschien 1985 in Westberlin, in der DDR veröffentlichte der Aufbau-Verlag dreizehntanz 1988 in der von Gerhard Wolf herausgegebenen Buchreihe „Außer der Reihe“. Es folgten zahlreiche Lyrikbände, meist in Kleinstverlagen. In den 1990ern verlor Papenfuß seine Leser. Er war ein Systemsprenger, bald nach der Wiedervereinigung wurde er vom gesamtdeutschen Literaturbetrieb ausgespuckt. Um 15 Uhr floss das erste Berliner Pilsner, dabei löste er gern das Kreuzworträtsel im Berliner Kurier. Im August diesen Jahres starb er an Krebs und wird am 7. Oktober in Prenzlauer Berg begraben. Frank WillmannBert Papenfuß: dreizehntanz S wie SeghersDie Erde raucht noch, als Anna Seghers 1947 aus der Emigration in Mexiko nach Deutschland heimkehrt, um später in der DDR zu leben. Was sie mitbringt, ist keine Nachkriegs-, eher Exilliteratur: der Roman Das siebte Kreuz oder die Erzählung Transit. Heimwehschwere Sehnsucht hat ihr zugesetzt in der Fremde. Doch war sie mit Novellen wie Der Ausflug der toten Mädchen nie versucht, in verlorenen Landsleuten tote Seelen zu vermuten, ob sie das Mahlwerk aus Faschismus und Krieg nun überstanden hatten oder nicht. Aus Schuld und Schande kommend, darf der Menschen zu schwach sein, um reinen Tisch zu machen mit seinem Geschick, das oft leichtfertig Schicksal genannt, weiß sie. Anna Seghers erzählt von der Kraft der Schwachen, die nicht in der menschlichen Gesellschaft an sich, sondern in einer der Menschlichkeit zu Stärke werden kann. Lutz HerdenAnna Seghers: Das siebte KreuzAnna Seghers: TransitAnna Seghers: Der Ausflug der toten MädchenW wie Wiederentdeckt50 Jahre mussten nach dem Tod von Brigitte Reimann vergehen, ehe sie in England „ankam“: mit dem Roman Die Geschwister in der Übersetzung von Lucy Jones, die sich nun auch Reimanns unvollendeten und 1974 posthum erschienenen Roman Franziska Linkerhand vornehmen will. So sind es immer Enthusiasten, denen Wiederentdeckungen zu verdanken sind. Auch hierzulande. Kristina Stella hat neben anderen Büchern unlängst die erste, unveröffentlichte Fassung des Romans Die Denunziantin herausgegeben. Und Carsten Gansel macht mit seiner großen Reimann-Biografie Furore. Eine Menge unbekanntes Material hat er verarbeitet. Man spürt, wie heutig diese Autorin ist, in ihren Lebensansprüchen ihrer Zeit voraus war. Eine Frau, die frei sein wollte und das als ihr Recht verstand – und die sich bis zuletzt von ihren sozialistischen Visionen nicht verabschiedet hat (→ Seghers). Reimann präsentiere ein anderes Bild Ostdeutschlands, „nicht den kalten, grauen, dunklen Ort … wie die meisten von uns es wahrscheinlich sehen“, hieß es dieses Jahr im Guardian. Irmtraud GutschkeBrigitte Reimann: Die GeschwisterZ wie Zitterbacke„Aha! Zitterbacke im Pflaumenbaum!“ – diesen Satz dürften nicht nur diejenigen kennen, die beim Erscheinen der Hörspielplatte Alfons Zitterbacke im Jahr 1977 selbst Kind gewesen sind. Noch Jahrzehnte danach wurden die Geschichten der Figur aus der Feder von DDR-Schriftsteller Gerhard Holtz-Baumert weitergetragen, vorgelesen, abgespielt. Der Junge mit dem ulkigen Namen und den noch ulkigeren Flausen im Kopf ist DDR-Kulturgut. 1958 schrieb Holtz-Baumert das erste gleichnamige Buch, es folgten nicht nur viele weitere, sondern auch eine DEFA-Verfilmung (1966), eine Fernsehserie (1986) und mehrere Vertonungen. 2019 und 2022 erschienen dann Neuverfilmungen, die maue Kritiken empfingen: Der Versuch, ein modernes Setting möglichst nah an die über 60 Jahre alte Vorlage zu knüpfen, gelang offenbar mäßig. Konstantin Nowotny Gerhard Holtz-Baumert: Alfons Zitterbacke
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