Tadschikistan/Russland: Die islamistische Versuchung eines Armenhauses bleibt bestehen
Terrorquellen Nach dem Massaker in einer Konzerthalle bei Moskau durch mutmaßlich tadschikische Täter bleiben die Wirkungen dieses Schocks spürbar. Viele in Russland lebende Arbeitsmigranten aus Mittelasien und dem Kaukasus sind verunsichert
Wer sich früher zum Atheismus bekannte, sucht nun oft Halt in der Religion: Moschee in Tadschikistans zweitgrößter Stadt Chudschand, 2009
Foto: Michael Runkel/Robertharding/dpa
Es waren keine Profis, die am 22. März in der Konzerthalle Crocus City Hall nahe Moskau um sich schossen und Feuer legten. Sonst wären sie maskiert gewesen und hätten nicht für Hinfahrt wie Flucht den gleichen weißen Renault benutzt. So aber waren sie leicht zu identifizieren und wurden auf dem Weg zur ukrainischen Grenze gefasst. Der Islamische Staat (IS) hat sich zum Grauen dieses Anschlags bekannt und die Festnahme von (tadschikischen) „Soldaten des Kalifats“ bestätigt, die aus einem der ärmsten Länder Zentralasiens kommen. Von den zehn Millionen Einwohnern Tadschikistans leben gut 630.000 als Arbeitsmigranten in Russland, um mit ihrem Einkommen die Familie zu versorgen.
Zwei Romane und der Zerfall der Sowjetunion
Laut Weltgesundheitsorg
000 als Arbeitsmigranten in Russland, um mit ihrem Einkommen die Familie zu versorgen.Zwei Romane und der Zerfall der SowjetunionLaut Weltgesundheitsorganisation WHO ist ein Drittel der Bevölkerung unterernährt. Not als Nährboden für Terrorismus? Tschingis Aitmatow, weltberühmter Romancier aus Kirgistan, dem nördlichen Nachbarn Tadschikistans, hat in seinem letzten großen Werk, Der Schneeleopard, beschrieben, wie sich Menschen aus einem Bergdorf zu einer Geiselnahme verabreden, um „ihren Anteil an der Globalisierung“ zu erkämpfen. Der Untertitel Wenn die Berge einstürzen verweist auf den Zerfall der Sowjetunion. Was das besonders für Tadschikistan bedeutete, führt der Roman Im Strom der Steine von Wladimir Medwedjew von 2021 drastisch vor Augen. „Russland hat uns verlassen“, sagt ein Bauer im Buch, „damit ist auch die Sowjetmacht verschwunden. Jetzt kenne ich mich überhaupt nicht mehr aus, in welcher Zeit wir eigentlich leben.“Im Westen ist es üblich, die Unabhängigkeit einstiger Sowjetrepubliken als Errungenschaft zu feiern. Aber lediglich die wohlhabenderen wie die drei baltischen Staaten konnten davon profitieren. Jene im Südosten, die von Beistand abhängig waren und 1991 nicht ganz freiwillig die Union verließen, gerieten in eine desolate Lage. Die Souveränität, wenn auch pflichtgemäß gefeiert, stürzte diese Staaten in politökonomische, teils kriegerische Konflikte und riss soziale Gräben auf. Zugleich trieben westliche Berater eine Schockstrategie zur Transformation voran, die einer schnellstmöglichen Privatisierung staatlichen und kollektiven Eigentums diente.Zbigniew Brzezińskis WorteEinstige Machthaber haben ihren Einfluss genutzt, um sich zu bereichern und eigene lokale Herrschaftsstrukturen zu schaffen. Feudales Erbe, in Sowjetzeiten unterdrückt, lebte auf. Wer sich früher zum Atheismus bekannte, suchte nun Halt in der Religion. 90 Prozent der Einwohner Tadschikistans sind Anhänger des Islam, der dort stets stärker ausgeprägt war als etwa in Kirgistan. Die Grenze zu Afghanistan im Süden Tadschikistans ist 1.300 Kilometer lang und kaum kontrollierbar. Schon zu Sowjetzeiten wurde aus dieser Richtung ein destabilisierender radikalislamischer Einfluss befürchtet, was stets zum Hintergrund des Afghanistan-Konfliktes gehörte.Russland plant derzeit, die herrschenden Taliban anzuerkennen und nicht länger als terroristische Bewegung zu betrachten. Das kann durchaus auf den Anschlag vom 22. März zurückgehen, der von den Taliban verurteilt wurde. Moskau braucht Beziehungen mit Kabul, denn die Eindämmung des IS ist von beiderseitigem Interesse. Wobei sich Zulauf zu islamistischen Terrorverbänden auch aus Spätfolgen jener robusten Militärreaktion der USA auf 9/11 erklärt. Vom „Krieg gegen den Terror“ fühlten sich Menschen islamischen Glaubens angegriffen, was zu Gegenreaktionen führte.Rückkehr nach Tadschikistan oder Kirgistan?Erinnert sei zudem an den Begriff vom „großen Schachbrett“ (The Grand Chessboard) aus dem Buch des US-Politikberaters Zbigniew Brzeziński, das unter dem Titel Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft 1997 auf Deutsch erschien. Darin wird detailliert ausgeführt, worin Supermacht-Politik für die USA nach dem Zerfall der Sowjetunion bestand. Die eigene Vorrangstellung in Eurasien würde nach Brzezińskis Folgerung dramatisch schwinden, sollten sich die Staaten der ehemaligen Sowjetunion gegen den Westen vereinen, die Kontrolle über Zentralasien erlangen und mit China ein Bündnis eingehen. Viel zitiert wird bis heute besondere die Aussage: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ Inzwischen wird nicht bestritten, dass unter ausländischen Söldnern auf Seiten der ukrainischen Armee auch solche aus islamischen Ländern kämpfen.„Der Islam gehört zu Russland“ – was Präsident Wladimir Putin schon vor Jahren bekundete – entspricht der Realität. Bei einer Gesamtbevölkerung der Russischen Föderation von 143 Millionen Menschen sind 17 bis 20 Millionen dem islamischen Kulturkreis zuzurechnen. Hinzu kommen jene aus den südlichen und östlichen Republiken der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die in Russland als Arbeitsmigranten leben und sich als „die Schwarzen“ durch die russischstämmige Bevölkerung oft diskriminiert fühlen.So bleiben einen Monat, nachdem in Krasnogorsk bei Moskau 144 Menschen durch Terror ums Leben gekommen sind, die Gemüter erregt. Viele Migranten aus Mittelasien und dem Kaukasus glauben sich nicht mehr sicher, während in ihren Heimatregionen die Familien warten, dass die Väter zurückkehren. Nur wovon sollen sie leben? Wie könnte sich die Lage in Tadschikistan oder Kirgistan verbessern, damit ein gesichertes Dasein schwelende Unruhe ersetzt? Illusionen sind deplatziert, es wird dauern und weiter nicht damit zu rechnen sein, dass in dieser Gegend westliche politische Systeme stabil Fuß fassen.
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