Reisen nach Kirgistan: Auf den Spuren von Tschingis Aitmatow
Literaturexpeditionen Die Autorin Irmtraud Gutschke reist seit vielen Jahren nach Kirgistan – auf den Spuren eines Autors, der schon vor langem vom planetarischen Bewusstsein sprach: Tschingis Aitmatow war in der DDR Schullektüre
Zwischen dem Herrn des blauen Himmels und der Mutter Erde hat der Mensch eine Balance zu finden, wissen die Nomaden
Foto: Anne Schönharting/Ostkreuz
Die Straße von der kirgisischen Hauptstadt Bischkek nach Talas kann man nur mit kleinen Bussen befahren und das nur bis Einbruch des Winters. In atemberaubenden Serpentinen windet sie sich über zwei 3.500 Meter hohe Pässe. Ab September können sie schon verschneit sein. Fast zu spät für den Abtrieb der Herden, die den Sommer auf den Hochebenen verbringen. Immer wieder bleiben unsere Busse stecken zwischen unzähligen Schafen, Kühen, Pferden. „Schaschlyk“, ruft der Fahrer begeistert. „Mach die Tür auf und greif dir ein Lamm. Das braten wir heute Abend!“
Gruslig, wenn ich mir vorstelle, beim Schächten zuzusehen. Dass man in Deutschland Wurst aus Schweineblut macht, erzähle ich ihm nicht. Wir sind in einem islamischen
slamischen Land – oder doch nicht so ganz. Denn gerade im Norden Kirgistans, wo Tschingis Aitmatow am 12. Dezember 1928 geboren wurde, sind untergründig bis in die Gegenwart naturreligiöse Vorstellungen lebendig geblieben. „Geister der Berge, steht uns bei auf unserem Weg! Wir sitzen unter Sternen, / Pferde spielen mit den Ohren, /Schafe atmen in den kalten Stein … Das Pferd soll nicht stolpern, / das Schaf nicht ersticken, / Der Kuh das Euter nicht erfrieren. / Lasst uns Eis und Schnee entrinnen …“ Diese und andere Beschwörungen, die Aitmatow noch kannte, sind in seinem Band Kindheit in Kirgisien abgedruckt.Aus Ost und WestNatürlich ist so eine Reise auch schön, wenn man nichts von diesem weltberühmten Schriftsteller weiß. Aber bisher – zum vierten Mal war ich auf seinen Spuren unterwegs – fuhren immer Leute mit, die seine Werke gelesen hatten: aus Ost und West, aus unterschiedlichsten Berufen – vom Rinderzüchter bis zum IT-Experten, von der Bibliothekarin bis zum Chemielehrer. Wir wunderten uns über uns selbst, wie wir abends zusammen saßen und sangen. Und Gulzada, unsere junge Reiseleiterin, tanzte für uns.Dass 94 Prozent des Landes gebirgig sind, hat sie uns schon erzählt, mit Gipfeln über 7.000 Metern. Nicht von ungefähr hat Aitmatow ja mit Erzählungen der Berge und Steppen begonnen. Die Landschaft, die ihn prägte, lassen wir nun auf uns wirken. Wie mag sich ein Hirt fühlen, der im Gebirge allein mit seiner Herde unterwegs ist? Einer wie Tanabai aus Abschied von Gülsary zum Beispiel: Aitmatow meint, dass er sich auf dem Rücken seines Pferdes über Gott und die Welt Gedanken macht, als ob er für alles zuständig sei.Im Ort Talas übernachten wir, um am nächsten Tag nach Scheker, dem Geburtsort des Schriftstellers, aufzubrechen, dort das Aitmatow-Museum zu besichtigen und das Freiluft-Memorial, wo Sandsteinskulpturen an Gestalten seiner Werke erinnern. Auf dem Hügel mit den Pappeln stand einst die Schule aus Der erste Lehrer. Dort wollte ein ganz junger Mann, Düischen, beseelt von den Idealen der Oktoberrevolution, den armen Dorfkindern eine lichte Zukunft eröffnen. Damals, 1924, wurde er von den Hirten verlacht. Aber eine Schülerin verliebte sich in ihn ...Das war die Zeit, als Aitmatows Eltern einander kennenlernten. Beide kommunistische Funktionäre, nahmen sie den Sohn auf ihre Reisen mit und ließen ihn eine Zeitlang auch in Moskau zur Schule gehen. Den Sommer hat er meist bei den Verwandten in Scheker verbracht, die nicht lesen und schreiben konnten, mit einer mündlichen Kultur, mit Mythen und Legenden lebten. Einmal, als er auf der Hochgebirgsweide an unerträglichen Zahnschmerzen litt, wurde ein Schamane gerufen. Und der hat ihm, so erzählte er, mit seinen Beschwörungen tatsächlich einen „Wurm“ aus dem Zahn entfernt.Der Verlust des VatersEin ernster Lebensabschnitt begann 1937, als Torekul Aitmatow in Moskau seine Verhaftung befürchtete. Eilig hat er Frau und Kinder zum Bahnhof gebracht. Bei den Verwandten im kirgisischen Bergland, so hoffte er, würden sie sicher sein. Erst Jahrzehnte später erfuhr die Familie von seinem Tod: 1938 erschossen und mit 137 anderen, die dem Geheimdienst aus irgendeinem Grund nicht genehm waren, in einem Massengrab verscharrt. Ihnen ist die Gedenkstätte Ata Bejit gewidmet. 25 Kilometer südlich der kirgisischen Hauptstadt wurde sie 1991 eingeweiht, als Kirgistan unabhängig wurde. Nach seinem Tod am 10. Juni 2008 wurde auch Aitmatow dort begraben.Der Verlust des Vaters als lebenslanges Trauma. Auch das Leid während des Krieges in Scheker, die vielen Toten, konnte er nie vergessen. Als ich 1977 auf ungewöhnlichen Wegen als erste Ausländerin in Aitmatows Geburtsort kam, konnte ich schon einiges über die autobiografischen Hintergründe seiner frühen Erzählungen erfahren. Vor Kurzem habe ich dort sogar die Töchter von Djamila kennengelernt. Diese Erzählung, von Louis Aragon 1958 als schönste Liebesgeschichte der Welt gerühmt, ist in der DDR ab den 60er-Jahren Schulstoff gewesen. Auch alle anderen Werke kamen im Verlag Volk und Welt heraus. In Lizenz erschienen die Übersetzungen dann ebenso in der BRD.Gab es unterschiedliche Lesarten? In der DDR war Aitmatow wohl auch deshalb so populär, weil er Probleme zur Sprache brachte, die das gesamte sowjetische Imperium betrafen: Machtmissbrauch und Misswirtschaft, alles das, was die Ideale einer gerechten Gesellschaft immer weiter in die Ferne rücken ließ. Inzwischen tritt anderes in den Vordergrund, wobei ich nicht nur die Exotik der Landschaft, die Jurten und die Pferde meine. Was wir auf unserer Reise natürlich auch genießen: Reiterspiele und Adlerjagd, Einladungen zu kirgisischen Familien, Speisen in einer Jurte. Bekanntschaft mit einer anderen Lebensweise: Wie kirgisische Hochzeiten vonstattengehen, erfahren wir von Gulzada in allen Einzelheiten. Wie eng der Familienzusammenhalt ist, mit welchem Aufwand verwandtschaftliche Beziehungen gepflegt werden.Aitmatows Wohnhaus hat seine Familie aus eigenen Kräften zu einem privaten Museum umgestaltet. Früher empfing mich dort Maria, seine Frau, und ließ es sich nicht nehmen, uns mit Piroggen und Tee zu bewirten.So wie es 1984 war, als ich mit der Familie in den kirgisischen Bergen war. Eldar Aitmatow war damals fünf. Jetzt ist er ein bekannter Maler und – nach dem Tod seiner Mutter – für alles verantwortlich im Haus. Er führt uns durch die Räume, erzählt, wie der Vater seine Texte mit der Hand schrieb, immer wieder durchstrich, korrigierte. Manches in den Papierkorb warf, was er als Kind wieder herausfischte.Wir sitzen im Garten. Ich lese das letzte Interview vor, das ich mit Aitmatow führte: über Herausforderungen nach der Unabhängigkeit seines Landes, die Gefahren von Nationalismus, soziale Ungerechtigkeit – und die Legende von der Ewigen Braut, die wie andere Überlieferungen bis heute in Kirgistan lebendig ist.Zum Auge des HimmelsEurasische Weiten! Wie winzig ist unser Land dagegen! Wie relativieren sich die eigenen Probleme! Ich bin viele Male in Kirgistan gewesen – um Aitmatow zu besuchen und später auf Konferenzen über ihn. Geradezu mystisch wirkt auf mich der See Issyk-Kul. Natürlich ist auch ein weißer Dampfer für unsere Gruppe da. Wir denken an die gleichnamige Erzählung, in der ein kleiner Junge sich in einen Fisch verwandeln will. Diese erschütternde Lektüre wird man nie vergessen. Aber zugleich genießen wir den Wind und die Wellen. So weit hinaus wie Aitmatow schwimme ich nicht, doch ist es für mich immer wieder ein Hochgefühl, dort ins leicht salzige Wasser zu tauchen und mich danach auf eine besondere Weise leicht zu fühlen.Schließlich gilt dieser See seit alters her als „Auge des Himmels“. Selbst wenn Gulzada als Muslimin von Aberglauben spricht, die Vorstellungswelt der Nomaden ist mir durch Aitmatows Kunst plausibel geworden: Zwischen dem Herrn des blauen Himmels und der Mutter Erde hat der Mensch eine Balance zu finden. Wir müssen verstehen, dass alles miteinander in einem Zusammenhang steht – die Menschen, die Tiere, die ganze Natur. Dass wir in diesem Sinne Verantwortung haben, in diesem Gedanken wollte Aitmatow uns bestärken.„Planetarisches Bewusstsein“, davon hat er immer wieder gesprochen. Gerade seine späten Werke – Der Tag zieht den Jahrhundertweg, Richtstatt, Das Kassandramal und Der Schneeleopard – sind mir wichtig durch diesen so aktuellen menschheitlichen Blick, den auf andere Weise schon seine Vorfahren hatten, die nicht lesen und schreiben konnten. Sie empfanden sich nicht in staatlichen Grenzen, sondern mussten einfach nur als Menschen überleben. Miteinander, anders ging es nicht.Muslim, Christ, BuddhistNeben der Muttersprache ist das Russische in Kirgistan unverzichtbar geblieben. „Ich trinke aus zwei Quellen“, hat Aitmatow einmal gesagt. Weil er seine Werke auf Russisch schrieb, erreichten sie das Publikum im ganzen Sowjetland und fanden ihren Weg in die Welt. Zusammen mit dem mythischen Nationalhelden Manas besitzt die Kirgisische Republik in ihm eine Identifikationsfigur. „Das Schwierigste für einen Menschen ist, jeden Tag ein Mensch zu sein“ – vor fünf Jahren zum 90. Jubiläum säumten Plakate mit diesem Zitat statt Werbetafeln die Autobahn. Jetzt kann ich bei den Feierlichkeiten nicht dabei sein, weil ich schon vorher die Einladung zu einer Aitmatow-Konferenz in London angenommen habe.„Ich bin Muslim, ich bin Christ, ich bin Buddhist, vor allem aber bin ich Weltbürger“, hat er einmal gesagt. Noch vor seinem Tod ist am See Issyk-Kul ein einzigartiges Kulturzentrum entstanden: „Ruh Ordo“, Ort der Geister. Tempel aller Weltreligionen sind hier zu sehen, unzählige Denkmäler wollen die verschiedenen kulturellen Traditionen integrieren. Auf einer Bank neben einer Aitmatow-Skulptur kann man sich fotografieren lassen. „Nun, was meinst du?“, frage ich die Bronzefigur. Weil ich keine Antwort bekomme, schweige auch ich.Placeholder authorbio-1
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