Trauer in Russland nach dem Terroranschlag in Moskau
Foto: Stringer/AFP/Getty Images
In Deutschland ist es schon kein Nachrichtenthema mehr, doch in Russland besteht die Erschütterung fort. Mehr noch: Die Schockwellen der Schüsse vom 22. März breiten sich aus nach Osten und Süden. Man stelle sich vor: Drei Männer in Tarnkleidung drangen mit Maschinengewehren in einem Konzertsaal bei Moskau ein und haben getötet, wen sie nur treffen konnten. Ein vierter, so weiß man inzwischen, hat Feuer gelegt. Medienberichten zufolge kam es zu zwei Explosionen. Nach dem Angriff stand die Halle in Flammen.
Wie verlässlich die Erklärungen der Festgenommenen sind, sei dahingestellt
Es gab Panik, Menschen versteckten sich in Toiletten und auf dem Dach oder versuchten, auf dem Boden ins Freie zu kriechen. Feuerwehr und Polizei waren schnell zur Stelle
eckten sich in Toiletten und auf dem Dach oder versuchten, auf dem Boden ins Freie zu kriechen. Feuerwehr und Polizei waren schnell zur Stelle. Sonderkommandos stürmten das Gebäude, vor dem sich Medienleute und Schaulustige versammelten. Leichen wurden in schwarzen Plastiksäcken herausgetragen.Die Täter waren seltsamerweise nicht einmal maskiert und wurden noch auf russischem Territorium festgenommen. Wie sich herausstellte, haben alle vier einen tadschikischen Hintergrund. Sie gaben an, über den Telegram-Kanal „Sadoi Churoson“ (Stimme von Chorasan) angeworben worden zu sein. Jedem von ihnen seien 500.000 Rubel (etwa 5.000 Euro) versprochen worden, die sie offenbar in Kiew erhalten sollten. Der Kanal gehört dem tadschikischen Flügel des IS, der von Afghanistan aus agiert. Die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ hat sich zu dem Anschlag bekannt und die Festnahme von „Soldaten des Kalifats“ bestätigt.Wie verlässlich diese Erklärungen und die Aussagen der Festgenommenen sind, sei dahingestellt. Beobachter berichten von Folterspuren, als die Verdächtigen in Moskau dem Haftrichter vorgeführt wurden. Das Bild eines Mannes im Rollstuhl, kaum bei Bewusstsein, ging um die Welt. Aufgenommen von russischen Nachrichtenagenturen – nicht zum Schrecken, sondern wohl zur Genugtuung der eigenen Bevölkerung, in der sich viele die Todesstrafe wünschen würden. Auch Dmitri Medwedew, von 2008 bis 2012 russischer Präsident, jetzt Vizechef des Sicherheitsrates und bekannt durch seine martialischen Äußerungen, sprach davon. Aber die vier – inzwischen ist von weiteren Festnahmen die Rede – werden wohl lebenslänglich unter extremen Bedingungen in einem Straflager festgehalten werden.Je bedrohter eine Gemeinschaft ist, umso stärker die Gefahren einer BrutalisierungSeit 1996 ist die Todesstrafe in Russland durch Präsident Boris Jelzin „ausgesetzt“. Der Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Moratorium so lange, bis Geschworenengerichte geschaffen würden, was seit 2007 der Fall ist. Gleichwohl nannte das Gericht am 19. November 2009 die Abschaffung der Todesstrafe einen „unumkehrbaren Prozess“. Dagegen mehren sich, gerade jetzt, Stimmen in der Bevölkerung, die Todesstrafe wieder einzuführen. Das wird von rechtsnationalistischen Kreisen ausgenutzt, die nun Oberwasser bekommen. Die derzeit von russischen Medien genährten Rachegefühle erschrecken einen umso mehr, wenn man sie in sich selbst nicht kennt. Der Wunsch nach Vergeltung lebt indes seit alters her in den Menschen, affektfreie Rechtssprechung ist eine zivilisatorische Errungenschaft vor dem Hintergrund weitgehend friedlichen Zusammenlebens. In Russland allerdings haben Politologen und Psychologen allen Grund, vor den Gefahren einer Brutalisierung zu warnen. „In unserer Geschichte gab es bereits mehrere Beispiele dafür, dass diejenigen, die ein Loch gruben oder zum Graben desselben anspornten, später in genau diesem gesetzlichen ‚Loch‘ landeten, das für andere vorgesehen war“, hieß es in einer Kolumne der Novaya Gazeta.Zorn und Ängste flammen auf, dass sich Ähnliches wiederholen könnteWas man in Westeuropa unterschätzt, ist der emotionale Faktor in der russischen Gesellschaft und Politik. Der Wunsch, als Großmacht respektiert zu sein, erklärt vieles in der russischen Politik, in der Symbolisches von größerer Bedeutung ist als hier. Zwar ist der Terroranschlag von Krasnogorsk nicht mit 9/11 in den USA zu vergleichen, doch war er ebenfalls mit einem Gefühl von Demütigung verbunden, dem der Staat öffentlichkeitswirksam begegnen wollte. Volkstrauertag am 24. März, Blumen, Kerzen, Blutspendeaktionen, Gebete. Die emotionalen Folgen eines solchen Anschlags sind immens. Zorn und Ängste flammen auf – nicht unbegründet –, dass sich ähnliches wiederholen könnte. Zumal das Land derzeit einen Krieg führt. Natürlich denkt man sofort auch an die Zerstörungen und die vielen Toten in der Ukraine. Dass von dort Hass nach Russland schwappt, ist plausibel. Wohl nicht zufällig hat sich der Vorsitzende des Sicherheitsdienstes der Ukraine, Wassilij Manjuk am 25. März gegenüber der ukrainischen Agentur „Unian“ mit Anschlägen auf „russische Helfershelfer der Agression gegenüber der Ukraine“ gebrüstet. Er meinte damit allerdings einzelne Personen wie den Abgeordneten Ilja Kiwa, den Militärkorrespondenten Wladlen Tatarski sowie den Schriftsteller Sachar Prilepin als Ideologen der „russischen Welt“ und erklärt genau, auf welche Weise mit ihnen abgerechnet wurde. Die russische Vermutung einer „ukrainischen Spur“ beim Massaker in der „Crocus City Hall“ ist indes nicht bewiesen.Durch Terror wird Panik verbreitet, die Russland an einer wunden Stelle trifft: dem staatlichen Zusammenhalt. Das Zusammenleben in einem multiethnischen und multireligiösen Staat muss friedlich bleiben. In der GUS, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, ist Russland auch mit den vornehmlich islamischen Staaten Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan Usbekistan verbunden. Dabei wird von offizieller Seite immer wieder betont, dass der Islam eine friedliche Religion sei. Der „Extremismus“ muslimischer Dschihadisten wird zurückgewiesen. Aber die Erinnerung an Anschläge und Massengeiselnahmen (u.a. 1995 in Budjonnowsk, 2002 im Nord-Ost Theater in Moskau, 2004 in der Schule von Beslan) wird nun wieder aufgefrischt. Ressentiments in der russischstämmigen Bevölkerung haben neue Nahrung gefunden.Gefahr durch Fremde? Kaum zu zählen, wie viele Arbeitsmigranten es allein in Moskau gibt. Aus den ärmeren zentralasiatischen Ländern kommen sie – legal oder illegal, registriert oder nicht. Was sie verdienen, fließt zum Teil zu ihren Familien zurück und nutzt somit den Herkunftsländern insgesamt. Dass aus der Not der Migranten auch Profit geschlagen wird, dass manche die Hand aufhalten, um fremde Bedürftigkeit auszunutzen, ist ein globales Problem. Vor dem Hintergrund des Terroranschlags werden nun wieder Forderungen nach einer schärferen Regulierung laut, was wiederum das Verhältnis zum (einst sowjetischen) Mittelasien belasten würde.Verurteilt wurde der Anschlag auch durch Afghanistan und die HamasEiner antiislamischen Stimmung in der Bevölkerung nachzugeben, kann sich die russische Regierung zudem gerade jetzt nicht leisten, da westliche Sanktionen in Folge des Ukraine-Krieges eine Orientierung Richtung Süden und Osten angefeuert haben. Die guten Beziehungen zu islamischen Staaten dürfen keinesfalls zur Disposition gestellt werden. Was man in jenen Ländern auch sofort begriff. Die Verurteilung des Anschlags ließ nicht auf sich warten. Sie kam aus Afghanistan und von der Hamas.Aber im eigenen Lande besteht die Gefahr eines Vertrauensverlusts. Deshalb das demonstrativ harte Vorgehen. Die russische Wirtschaft braucht die Migranten. Aktuelle Nachrichten über vereitelte Anschläge dienen dem Image der Geheimdienste, denen durchaus zur Last gelegt werden kann, dass sie das Desaster nicht verhindert haben. Doch Zwietracht und Ängste werden dadurch nur vertieft.Natürlich kann der Anschlag vom 22. März auch „unter fremder Flagge“ geschehen sein. Die ganze Wahrheit werden wir womöglich nie erfahren. In westlichen Ländern wird wieder einmal über die Verwundbarkeit Russlands orakelt, an der man durchaus ein Interesse hat. Als ob nicht auch wir verwundbar wären. Wie wäre die Stimmung, wenn es in Deutschland einen solchen Anschlag gegeben hätte? Und überhaupt: Je größer die mit wachsender sozialer Unsicherheit einhergehenden Ängste, umso gefährdeter ist der innere Frieden im Land. Auch hier kann eine Demokratie in Gefahr geraten, die ihre Voraussetzung in Wohlstand und äußerer Sicherheit hat.
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