Taten von Terroristen haben eine Handschrift. Die zeigt sich in der Wahl des Tatorts und der Opfer, in den unmittelbaren Tätern und der Art ihres Vorgehens. Das gilt auch für den Angriff auf den Konzertsaal „Crocus City Hall“ am 22. März bei Moskau. Dabei kamen nach offiziellen Angaben mindestens 140 Menschen um. Das Ziel der Täter bestand offenbar darin, in kurzer Zeit möglichst viele zu töten. Dazu wurde mit Maschinenpistolen wahllos auf Zivilpersonen, auch auf Kinder, geschossen. Erinnerungen an den Angriff auf den Pariser Musikclub „Bataclan“ am 13. November 2015 wurden wach.
Wenig überraschend bekennt sich der „Islamische Staat“ (IS) – in seinem Handeln weder islamisch noch staatlich – zu der Mordtat. De
Islamische Staat“ (IS) – in seinem Handeln weder islamisch noch staatlich – zu der Mordtat. Der IS-Propagandakanal Amak veröffentlicht ein Video, das die Täter am Ort des Terrors zeigen soll. In der schriftlichen Rechtfertigung durch den IS heißt es, der Angriff habe „Tausenden Christen in einer Musikhalle“ gegolten.Spontanes Blumenmeer am Tatort in KrasnogorskWenn die Auftraggeber der Terroristen gehofft hatten, in der russischen Bevölkerung Panik auszulösen, so haben sie dieses Ziel verfehlt. Mitarbeiter des Gesundheitswesens und der gut organisierte Katastrophenschutz waren mit Krankenwagen und Helikoptern rasch zur Stelle, um die Verletzten in die Operationssäle von Moskauer Krankenhäusern zu bringen. Menschen, die seit fast einer Generation mit dem Terror zu leben gelernt haben, zeigten ihre Anteilnahme mit den Opfern und sorgten für ein Meer aus Blumen am Tatort, spontan, nicht organisiert. Es trafen sich Christen, Muslime, Juden und Buddhisten, Angehörige vieler Bevölkerungsgruppen des multiethnischen Russland. Kein Wort des Hasses, keine Parolen waren zu hören.Die vier mutmaßlichen Todesschützen sind auf der Flucht bei Brjansk nahe der ukrainischen Grenze festgenommen worden. Der Zugriff erfolgte auffallend schnell. Aus Ermittler-Kreisen wird kolportiert, Präsident Putin habe befohlen, die Täter lebend zu fassen, um deren Auftraggeber zu finden. Festgenommen wurden bildungsferne Bürger aus der früheren Sowjetrepublik Tadschikistan. Dass sie dem Haftrichter mit Schürf- und Platzwunden vorgeführt wurden, deutet auf das gegenüber Verdächtigen traditionell rabiate Vorgehen russischer Polizeikräfte.Freilich überdeckt die ostentative Entschlossenheit der Sicherheitsorgane schwerlich den Umstand, dass es den russischen Geheimdiensten nicht gelang, diesen Anschlag zu verhindern. Dabei gilt gerade der einst von Wladimir Putin geleitete FSB als auf Terror-Abwehr getrimmt. Drei Tage vor dem Anschlag hatte der in einer Sitzung des FSB-Führungsstabs in der Zentrale Lubjanka auch über terroristische Bedrohung gesprochen. Putin bezeichnete die Warnung von US-Diensten vor Attentaten in Russland als „provokatorische Erklärungen einer Reihe westlicher Strukturen“. Dies erinnere ihn an „offene Erpressung“. Man wolle erschrecken, „um unsere Gesellschaft zu destabilisieren“. Zugleich bat er den FSB, „ernsthaft die antiterroristische Arbeit in alle Richtungen“ zu lenken. Und er sprach über den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipeline, den russische Geheimdienste pauschal „den Angelsachsen“ zuschreiben. „Terroristischer Methoden“ bezichtigte er das „Kiewer Regime“.Tschetschenische ExtremistenBei seiner Fernsehansprache nach dem Anschlag streute der Präsident dann ein, die Attentäter hätten sich auf der Flucht „in Richtung Ukraine bewegt“. Dort sei „nach vorläufigen Angaben“ der Ermittler „ein Schlupfloch für den Grenzübergang“ eingerichtet worden. Putin kündigte an: „Alle Ausführenden, Organisatoren und Auftraggeber dieses Verbrechens werden ihre gerechte und unausweichliche Bestrafung erhalten.“ Er verzichtete darauf, die ukrainische Führung für die Tat verantwortlich zu machen, auch wenn deutsche Medien das Gegenteil suggerieren. Zwar hat Kiew Angriffe russischer neofaschistischer Söldner im Raum Belgorod zu verantworten, die Moskau als terroristisch einstuft. Ein Anschlag wie der auf das Konzerthaus aber passt nicht zu diesen Übergriffen.Wolodymyr Selenskyj hat sich vom Massaker in der Crocus City Hall distanziert, was noch nicht die Frage klärt, ob der ukrainische Militärgeheimdienst GUR direkt oder indirekt mit den Attentätern in Kontakt war. GUR-Chef Kyrylo Budanow ist in Kiew wegen eines Hangs zum Abenteurertum umstritten. Kritiker im Militär werfen ihm vor, seine Operationen wie Angriffe auf russische Grenzdörfer mithilfe rechtsextremer Söldner führten zu unvertretbar hohen Opfern. Er sei zu sehr einer Logik der Eskalation verhaftet.Der GUR-Chef bietet auch tschetschenische Extremisten gegen Russland auf, die von einer Rückkehr der „Tschetschenischen Republik Itschkeria“ träumen. Russland hat diese international nicht anerkannte „Republik“ im Jahr 2000 militärisch zerschlagen. Sie war ein Konglomerat aus ethnischen Nationalisten, Kriminellen und militanten Islamisten um den Terroristen Schamil Bassajew, der im Juli 2006 bei einem Einsatz des FSB getötet wurde.Afghanistan und der pakistanische GeheimdienstBei aller Skepsis gegenüber staatsnahen russischen Versionen einer vermeintlichen ukrainischen Spur sollte eine unbequeme Frage nicht ausgeklammert werden: Wird ein ukrainischer Geheimdienstchef, der keine Scheu hat, Neofaschisten und kaukasische Extremisten für sich einzuspannen, vor einer Kooperation mit islamistischen Terroristen im Kampf gegen Russland zurückschrecken? Wie viel Moral hat jemand, dessen Markenzeichen der Abbau moralischer Hemmschwellen ist?Der russische Politologe und Ex-Mitarbeiter der Deutschen Welle Witalij Wolkow schrieb in der Rossijskaja Gaseta, die „netzartig“ und nicht zentral geführten Reste des IS in Afghanistan stünden in Kontakt mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, der beim Transfer von Waffen und Söldnern in die Ukraine mit dem britischen und ukrainischen Geheimdienst kooperiere. Bereits der Verdacht gegen ukrainische Akteure im Hintergrund wirkt in Russland. Unter denen, die dem Staat loyal gegenüberstehen, fällt die Version von einer solchen Spur auf fruchtbaren Boden.