Es war zu erwarten, dass der blutige Terroranschlag von Krasnogorsk bei Moskau rasch durch das Prisma des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine betrachtet wird. Obschon sich ein Ableger des Islamischen Staates (IS) zu den Anschlägen bekannte und sogar Videos – also Täterwissen – veröffentlichte, war davon in der öffentlichen Lesart Moskaus zunächst nicht die Rede. Vielmehr wurde bekannt gegeben, dass vier aus Tadschikistan stammende Tatverdächtige auf russischem Staatsgebiet festgenommen wurden – auf der vermeintlichen Flucht in Richtung Ukraine. Deren Präsident Wolodymyr Selenskyj ätzte umgehend: „Putin und andere Drecksäcke versuchen immer, einen anderen Schuldigen zu finden.“
Terrorakte in dieser Dimension
andere Drecksäcke versuchen immer, einen anderen Schuldigen zu finden.“Terrorakte in dieser Dimension zwingen jede Regierung zu einschneidenden Maßnahmen. Mit bisher 140 Toten und einer großen Zahl an Verletzten war es der schwerste Anschlag in Russland seit dem Überfall auf eine Grundschule im nordossetischen Beslan von 2004, als 332 Opfer zu beklagen waren, darunter 176 Kinder. Der russische Staat reagierte auf Verbrechen dieser Art zumeist mit großer Härte. Als im Sommer 1999 in Moskau Wohnhäuser in die Luft gesprengt wurden und die genaue Zahl der Toten nie endgültig zu ermitteln war, ließ sich Wladimir Putin – damals noch Ministerpräsident – mit dem Satz zitieren: „Wenn sie, Entschuldigung, auf der Toilette sind, werden wir sie auf dem Klosett kaltmachen.“ In jener Zeit begann der zweite Tschetschenien-Krieg.Auch Putins Reaktion als kurz darauf ins Amt gekommener Präsident auf die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater vom Oktober 2002 war entsprechend und führte zu einer Stärkung seiner Machtbefugnisse im Inneren. Seit Russland den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad unterstützt und Luftangriffe gegen Dschihadisten in Syrien fliegt, wurde Moskau nicht zuletzt deshalb zum potenziellen Ziel des Islamischen Staates.Im Augenblick sorgen sich auch Frankreich und Deutschland wieder mehr wegen möglicher islamistischer Anschläge. Emmanuel Macron hat nach dem Attentat bei Moskau die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen. Laut Innenministerin Nancy Faeser gehe vom IS-Ableger Provinz Khorasan (ISPK) in Deutschland die größte islamistische Bedrohung aus. Ein vereitelter Anschlag auf den Kölner Dom vom Januar wird dieser Gruppe zugerechnet, sie soll zudem in Afghanistan, Pakistan, in der Türkei und im Iran aktiv sein.Russland bombardierte am Wochenende der Trauer um die Toten in der „Crocus City Hall“ abermals Kiew, Charkiw im Osten, Lwiw im Westen und Odessa im Südosten der Ukraine, um wiederum besonders die regionale Energieinfrastruktur zu treffen. Dabei drang eine russische Drohne offenbar kurz in den polnischen Luftraum ein. Die Ukraine vermeldete ihrerseits Raketenangriffe auf den Hafen Sewastopol, wo ein Teil der russischen Schwarzmeerflotte stationiert ist.Dmitri Peskow spricht erstmals von „Krieg“ gegen die UkraineAttentat und Angriffe – auf den ersten Blick unverbundene Ereignisse – zeigen, wie sehr der Krieg im Osten die sicherheitspolitische Agenda in einer Weise bestimmt, die höchst brisant ist. Schließlich stellt der Anschlag für Russland eine so womöglich unerwartete Bedrohung dar. Sie könnte dazu führen, dass sich der Fokus des Sicherheitsapparates vermehrt auf den islamistischen Terrorismus richten muss. Das Schutzversprechen des Kremls an die eigenen Bürger – bereits kurzzeitig erschüttert durch den Prigoschin-Aufstand im Juni 2023 – dürfte verstärkt zu repressiven Maßnahmen führen. Dass ein mit Terror im Inneren beschäftigter Staat die Aussichten für die Ukraine in ihrem Abwehrkampf verbessert, ist nicht zu erwarten.Wer auch immer die Täter und Urheber des Anschlags sein mögen – die Debatte darüber wird umgehend instrumentalisiert und in Moskau wie Kiew zum Teil der Kriegsführung. Auch wenn Wladimir Putin inzwischen erklärt hat, dass der Terroranschlag von Islamisten ausgeführt worden sei, stehen seine kryptischen Andeutungen im Raum, wonach die Ukraine „ein Fenster zur Überquerung der Staatsgrenze vorbereitet“ habe. Dies lässt vermuten, dass mit einem Narrativ zu rechnen ist, das eine Lesart der Ereignisse bedient, wonach der Westen Russland schwächen wolle und bereits früher Terroristen aus dem Kaukasus unterstützt habe.Ausgesprochen heikel für die Regierung in Moskau ist, dass es offenbar US-Geheimdienstinformationen gab, nach denen ISPK-Anschläge in Russland drohen könnten, dies allerdings als Desinformationskampagne gewertet wurde. Kurz vor dem Anschlag ließ aufhorchen, dass Kreml-Sprecher Dmitri Peskow die Semantik drastisch änderte. Was als „militärische Spezialoperation gegen die Ukraine“ begann, ließ er wissen, habe aufgrund der westlichen Unterstützung für den Gegner „die Form eines Krieges gegen den kollektiven Westen“ angenommen. Insofern sollte der Anschlag bei Moskau als ein weiterer Anstoß dafür begriffen werden, den Krieg in der Ukraine durch Verhandlungen und einen politischen Kompromiss zu beenden, um derartigen Risiken weiterer Eskalation vorzubeugen, die jederzeit außer Kontrolle geraten könnte. Der Westen sollte schleunigst die Initiative ergreifen.