Weltentstehung im Wohnzimmer

Arno Schmidt/Biografie Schmidts Protoheld ist der Großsprecher im Gehäuse des kleinen Mannes wie er im Buche steht. Erste Bemerkungen zu Sven Hanuscheks Arno Schmidt-Biografie

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„Ein Mann ohne Leben. Was Biografie zu sein scheint, war die Idiotie der Geschichte, die ihn so lange herumprügelte, bis er in Bargfeld schließlich Ruhe fand.“ Rolf Vollmann über Arno Schmidt

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„Mein Herz gehört dem Kopf.“ Arno Schmidt

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„Ich protestiere lieber allein.“ AS

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„Und was heißt schon New York? Großstadt ist Großstadt; ich war oft genug in Hannover.“ AS

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Zum Dozieren geneigt seien Schmidt und er „schon als Säuglinge“ gewesen. Hans Wollschläger

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Eine Schmidt’sche Spielfigur der ersten Nachkriegsjahre ist der pensionierte Vermessungsrat Friedrich Stürenburg. Der vor Behagen knarrende Mittsiebziger geistert durch einigeGeschichten. Er hält Hof in seinem Haus am Steinhuder Meer. Da trägt er am Kamin vor. In dieser Umgebung lobt sein Schöpfer die Heide über den grünen Klee. Während Hegel und Gneisenau der - „von Osten nach Westen Europa“ durchquerenden - Choleraepidemie von 1831 an ihren prominenten Plätzen zum Opfer fielen, „machte die Seuche mangels Verbreitungsmöglichkeit an der Ostgrenze der Heide halt“.

Dies auch als Lob der Einsamkeit.

Arno Schmidts Protoheld ist der Großsprecher im Gehäuse des kleinen Mannes wie er im Buche steht

Eine weithin inferior erscheinende Figur, deren grandiose Selbstwahrnehmung die Verhältnisse am Küchentisch von den Füßen auf den Kopf stellt, begegnet jeder Macht mit den Methoden des tapferen Schneiderleins.

Emotionale Gedanken

Es flößt sich Stärke wie Lebertran ein. Es rühmt und applaudiert sich. Es zeigt sich springlebendig. Es zückt ein Streichholz und nennt es Excalibur. Es denkt seine „emotionalen Gedanken … in seinem eigenen Kopf“.

Vermutlich überleben viele mit diesem Programm. Die ausgrenzende Assoziation blank behaupteter Überlegenheit mit realen und literarischen Aufschneidern wie Karl May, Felix Krull, dem Soldaten Schwejk und dem Hauptmann von Köpenick verschleiert den allgemeinen Zwang zur Pfiffigkeit.

Sven Hanuschek, „Arno Schmidt“, Biografie, Hanser, 45,-

Einem weithin geschätzten Reformpädagogen seiner Schulzeit stellt Schmidt kein günstiges Zeugnis aus. Er erinnert den genialischen Unterrichtsstil als ein „sich-in-Scene-setzen-vor-Unmündigen“. Die bramarbasierende Vielsprachigkeit der Koryphäe erlebte der Schüler als „polyglottes Jägerlatein“.

Schwimmbäder und Badeanstalten spielen in den Erinnerungen eine Rolle. Die Rede ist dann auch von einem Fußballspiel des HSV „gegen Uruguay“ im HSV-Meisterschaftsjahr 1928. Der Biograf unterstellt, Schmidt kolportierend, den Hanseaten eine geringe Meinung von den „Wilden“ aus Südamerika. Das verfehlt den damals aktuellen Wissensstand. Am 3. Juni 1928 spielte Deutschland gegen Uruguay im Amsterdamer Olympiastadion. Obwohl Deutschland gerade ein Spiel 4:0 gewonnen hatte, erschien die Mannschaft gegen Uruguay als Außenseiter.

„Uruguay hatte mit einem Team aus Schuhputzern, Metzgern und Klavierstimmern schon 1924 das olympische Fußballturnier von Paris gewonnen. Damals hatte sie noch kaum einer gekannt, die Spieler wie Andrade, Cea und Urdinárin. Jetzt kennt sie jeder, die Deutschen mit Reichstrainer Otto Nerz wissen, was sie erwartet.“Quelle

Schmidt bezieht sich vermutlich auf eine Europatournee vonPeñarol Montevideozwischen April und Juni 1927. Vielleicht hat er sich die Jahreszahl falsch gemerkt; in jedem Fall auch den Ausgang der Partie. Richtig erinnert er den markanten norwegischen SpielerAsbjørn Halvorsen.

„Ähnlich unglücklich verlief die Partie gegen den Hamburger SV, die Schiedsrichter Alfred Birlem am 15. April im Altonaer Stadion leitete. Ein zweifelhafter Elfmeter entschied sie zugunsten der Norddeutschen, die letztlich 3:2 gewannen.“ Wikipedia

Umzug nach Lauban/Lubań

Nach dem Tod ihres Mannes kehrt Clara Schmidt mit den Kindern in ihre Ursprungsumgebung zurück. Die Familie vergrößert sich räumlich in Claras Elternhaus. Arno Schmidt reüssiert in den neuen Verhältnissen. Sein Genie macht sich bemerkbar. Zeitgenossen bewundern ein „gusseisernes Gedächtnis“. Bald nach dem Abitur reicht Schmidt beim Karl May Verlag einen Beitrag ein, den er bei Gelegenheit als Abfallprodukt seiner Beschäftigung mit Nietzsche charakterisiert.

Der Debütant changiert. Glaubt er, jemand verstünde den May-Clou nicht, pfeffert er philosophisch nach. Er versucht, Hermann Hesse für ein allenfalls keimendes Frühwerk zu interessieren. Er kontaktiert einen Schlesier knapp hinter Hauptmann, den Blut-und-Boden-AutorHermann Stehr. Die erste Veröffentlichung ist eine Schach-Aufgabe.

Der Biograf fragt: Wie steht der Adoleszent zum Nationalsozialismus, der in der Familie gleich nach der Machtergreifung für Verwerfungen sorgt. Für Schmidts - mit einem jüdischen Kommunisten verheiratete - Schwester beginnt eine Exil-Odyssee. Der Bruder absolviert eine Kaufmannslehre, nach einem nicht nachweisbaren, von Schmidt aber wiederholt behaupteten Studienabbruch. Wieder sind seine Vorsprünge unübersehbar. Wieder fällt allgemein die Anerkennung des Außerordentlichen leicht.

1937 heiraten Alice und Arno Schmidt. Auf seinen Wunsch stellt Alice ihre Erwerbstätigkeit ein. Das Paar bezieht die Wohnung von Arnos emigrierter Schwester.

Aus der Ankündigung

Sven Hanuschek legt die erste grundlegende Biografie über Arno Schmidt vor – mit überraschenden Entdeckungen aus dem Nachlass des Schriftstellers

Er stilisierte sich zum Einzelgänger in der Heide, seine Leserschaft versteht sich bis heute als verschworene Gemeinschaft: Und doch hat es Arno Schmidt zum Klassiker der Moderne gebracht. Bis jetzt aber fehlte noch eine grundlegende Biografie, die auch dem umfangreichen Nachlass gerecht wird. Sven Hanuschek hat eine Fülle neuer Quellen ausfindig gemacht, die einen neuen, umfassenden Blick auf Schmidts Persönlichkeit eröffnen, auch wenn sie damit manch vertraute Mythen entzaubern. Und er hilft bei der Orientierung in einem riesenhaften Werk, das zu den Höhepunkten der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts zählt. Nicht nur Arno Schmidts Gemeinde hat schon lange auf eine solche Biografie gewartet.

Zum Autor

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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