Bericht aus der Hölle

Stadt Land Buch In der Niederländischen Botschaft trafen in einer Bestenauswahl der Nachwuchsautoren die Flamen Michael Bijnens und Fikry El Azzouzi auf den Niederländer Gustaaf Peek.

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Von links: Michael Bijnens, Fikry El Azzouzi, Gustaaf Peek

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Das Literaturfestival Stadt Land Buch präsentiert noch bis zum 12. November Schriftsteller des niederländischen Königreichs sowie der königlich-belgischen Region Flandern. In der Niederländischen Botschaft trat eine Bestenauswahl der Nachwuchsklasse an. Michael Bijnens, Fikry El Azzouzi und Gustaaf Peek zeigten sich einem Auditorium, dessen Aufmerksamkeit nie nachließ. Barbara Wahlsters Moderation ließ den Termin wie ein Luftschiff über den Wolken dahingleiten. Schauspieler Matthias Friedrich las aus den Werken von El Azzouzi und Peek. Bijnens trug selbst vor. Der siebenundzwanzigjährige Flame debütierte mit einem Höllenritt der Selbsterforschung. In „Cinderella“ erzählt er die (seine Biografie knapp verfehlende) Geschichte eines Hurenkindes, das zum Zuhälter der Mutter wird. Der Titel nennt den Schauplatz der Ereignisse. „Die Mutter arbeitet in einem (house of the rising sun), vor dem sich zwei Straßen kreuzen: die Paradiesstraße und der Friedhofsweg.“

Wahlsters berührte empfindliche Stellen. Der Autor habe sich die Wirklichkeitsnähe seiner Schilderung von der Mutter beglaubigen lassen. Dafür spricht bereits der Klappentext. Er weist Bijnens als „Sohn einer Prostituierten“ aus, als läge die Überzeugungskraft des Textes in der biografischen Schlinge. Sein Landsmann El Azzouzi, Jahrgang 1978, hat auch schon einiges von dem hinter sich, was er seinen literarischen Dauerläufer Ayoub in dem Roman „Sie allein“ erleben lässt. El Azzouzis zweites Ich taucht als Spüler in der Küchenkloake des „All Cook Up“. Chefin Eva findet den Neuen erregend undurchsichtig. Wieder und wieder geht sie auf ihn los. Sie bewundert Ayoubs versiert abgedeckten Konter. Schließlich erliegt sie dem schönen Außenseiter.

Das „All Cook Up“ ist „Kriegsgebiet“. Strategen aus der Unterschicht verbessern ständig ihr Mobbing. El Azzouzi belegte die Niederländische Botschaft mit eigenen Botschaften. Er wies auf migrationspolitische Missstände in Belgien hin. Zu schnell kriminalisiere man da (wie dort „in einem sich auflösenden Europa“) ethnisch Differente. Die Kriminalisierten schöbe man leichten Herzens in die Herkunftsländer ihrer Eltern ab, wo sie so fremd wie autochthone Gallier seien – traurig wohl wie Obelixe in Ägypten. El Azzouzi erwähnte seinen Humor als Lieblingswaffe. Indes entdeckte Wahlsters in seinem Kosmos vor allem „Wut und Fatalismus“.

„Im Dunklen war die Strecke bei Betrunkenen beliebt.“ (Aus „Göttin und Held“)

Der 1975 in Haarlem geborene Schriftstellerjournalist Gustaaf Peek erkundet in „Göttin und Held“ die Liebe rückwärts. Der Tod steht am Anfang einer Geschichte, die aus der Frage kommt, was zwei Menschen verband. Peek folgt Spuren ihrer Liebe. Das ist nicht trivial. Was für Zwei alles bedeutet, ist nichts für andere. Das Alter zwingt Liebende zu Verbergungen.

„Was ist Liebe? Ich musste das genau untersuchen. Deshalb betrat ich die Domäne der Intimität von Tessa und Marius.“

Peek widmet sich der Erkundung einer nahezu lebenslangen Intimität. Auf dem Podium erschien er wie ein Gefangener seiner Arbeit, während Bijnens befreit wirkte. Über seine Mutter redete Bijnens in der Vergangenheitsform, obwohl sie lebt.

„Meine Mutter hatte ein Loch in ihrer Seele.“

Sie ertrug „einen Daseinsmangel“. Sie lebte mit der Aussicht auf Rettung. Erst versprach sie sich die Rettung von einem Mann. Dann nahm sie alle Männer dafür als falsche Möglichkeiten. - So wie endlich den Sohn. Sie überforderte das Kind mit ihren Heilserwartungen.

Bijnens half sich mit starken Formulierungen, die mich neugierig machen auf „Cinderella“. Es klang etwas an wie von Charles Dickens. Ich sah Mutter und Sohn auf viktorianischen Nebelbänken bereit zur Introspektion. Bijnens fand im Zuhälter „die perfekte Metapher für eine misslungene Rettung der Mutter“.

„Um mit meiner Mutter leben zu können, musste ich das Buch schreiben.“

Bijnens erzählt von einer Welt, „in der nichts Bedeutung hat“. Peek erzählt eine Welt, in der alles Bedeutung hat.

Vorletzte Worte

Bijnens: „Ich habe alles verdreht.“

Die Mutter aber erkannte in den Verdrehungen eine tiefere Wahrheit.

Peek: „Ich hoffe, ein Künstler zu sein.“

El Azzouzi: „Oft hatte ich von sechs bis sechs nichts zu tun (als Nachtportier). Da schrieb und las ich.“

Letzte Worte

Wahlsters fragte die Autoren nach dem Zauber ihrer Verbindung. Peek antwortete: „Uns verbindet, dass wir uns für Dinge interessieren, für die sich sonst kein Mensch interessiert.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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