Das ausschlussbasierte Wir

Max Czollek „Gegenwartsbewältigung“ - Der Titel von Max Czolleks aktueller Streitschrift reklamiert eine gescheiterte Vergangenheitsbewältigung. Selbstverständlich ist die ...

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„Werkzeug wird der Feind uns liefern, bis er verschwunden ist.“ Heiner Müller

Max Czollek bezeichnet „die Kultur als Komplizin der Politik“. In dieser Lesart kann man keine unpolitischen Romane schreiben. Patrick Wagner in der taz: „Halle, Hanau, NSU und Nazis im KSK. Max Czollek hat genug von politischen Kampfbegriffen wie „Heimat“ oder „Leitkultur“. Deshalb begnügt sich der Autor, Publizist und Politologe nicht mehr damit, die Debatte darüber, wer zu Deutschland gehört, zu kritisieren. Er möchte die Idee einer Gesellschaft, in die man hineingeboren werden muss, um sie mitprägen zu dürfen, am Boden liegen sehen - vom Ringrichter unter tobenden Jubelschreien angezählt.“

„Gegenwartsbewältigung“ - Der Titel reklamiert eine gescheiterte Vergangenheitsbewältigung. Selbstverständlich ist die Gegenwartsbewältigung das Negativ dieser Verbindung. Da die Deutschen auf die Wahrheit nicht angewiesen sind, um „ein positives ... Selbstverständnis zu bilden“, wie Max Czollek 2018 in „Desintegriert euch“ gezeigt hat, leidet jeder weitere Bedeutungssattel an dem ursprünglichen Fehler. Folglich gilt, dass jeder neue Anlauf einer Bewältigung dem Scheitern Beispiele liefert.

Max Czollek, „Gegenwartsbewältigung“, Streitschrift, Hanser, 20,-

Czollek verweist früh im Text auf „unauslotbare Triebe“ (Umberto Eco), die Ideologien zwar Feuer geben, sie aber auch überleben. In den Transformationen ergeben sich Merkwürdigkeiten. Heiner Müller bringt sie auf den Punkt, sich auf Brecht stützend: „Blitzkrieg, das ist gebündelte linke Energie.“

„Als Hitler der Treibstoff ausging begann der Golfkrieg.“ HM ohne Komma

Czollek beginnt seinen Erkundungen im Gelände der Unversöhnlichkeit mit einer Sonderform der Neujahrsansprache. Angela Merkel wandte sich erstmals außer der Reihe ihrer pathosfrei-protestantischen Performance im März 2020 an die Bürger*innen und erklärte: „Es ist ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“

Sobald Panik aufkam, wurden die Grenzen geschlossen und die berühmte europäische Freizügigkeit kassiert. Im Zuge der Erforschung des europäischen Pandemie-Konsenses hätten manche Ratsherren gerne Länder mit mediterranen Grenzen nach dem Schema für den globalen Süden deklassiert.

Czollek zieht eine Linie von Merkels Solidaritätsbeschwörung zu einer Balkonsuada von Wilhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“

Das wirkt auf den ersten Blick weit hergeholt. Merkels anti-heroischer, anti-bellizistischer, anti-martialischer März-Appell geht im kaiserlichen Hochmut nicht auf. Aber darum geht es auch nicht. Es geht um das Postulat einer überparteilichen Formation, die, hier bezieht sich Czollek auf Carolin Emcke, („Corona … als Kontrastmittel“) viele ausschließt, gerade indem sie an den Gemeinsinn appelliert; so als erzeuge die Pandemie auf die triftigste Weise das denkbar allgemeinste Wir.

Czollek zitiert einen CDU-Politiker, der die deutsche Leitkultur als Bollwerk gegen den Antisemitismus hochhält und so das ewige Projekt der Täter-Opfer-Umkehr fortschreibt. Das muss man erstmal hinbekommen: dieses ausgeruhte Gewissen und die schnelle Bereitschaft, das Fatale stets außerhalb des eigenen Dunstkreises zu lokalisieren.

Czollek hält dem ausschlussbasierten Wir ein „riesiges Archiv widerständiger künstlerischer Perspektiven entgegen“. Er plädiert für die Kultivierung der Übergänge zwischen Kunst, Politik und Aktivismus; so dass sich Verständnis für die Entscheidung jener Studierenden an der Alice Salomon Hochschule einstellt, die Eugen Gomringers lyrischen Fassadenschmuck für überholt hielten.

„Und die Mehrheit entschied, es sei Zeit für ein neues Gedicht.“

Bald mehr.

Aus der Ankündigung: In Zeiten der Krise leiden Gesellschaft und Vielfalt. Für Max Czollek bieten staatstragende Konzepte wie „Leitkultur“ oder „Integration“ darauf keinerlei Antwort. Seit 2018 wird viel diskutiert über Max Czolleks Streitschrift „Desintegriert euch!“. Beschrieb sie den Status quo des deutschen Selbstverständnisses, entwirft Czollek nun das Modell für eine veränderte Gegenwart: Wie muss sich die Gesellschaft wandeln, damit Menschen gleichermaßen Solidarität erfahren? Welche liebgewonnenen Überzeugungen müssen wir alle dafür aufgeben? Wie kann in einer fragmentierten Welt die gemeinsame Verteidigung der pluralen Demokratie gelingen? Max Czollek trifft ins Herz des Jahres 2020 – diese Polemik ist sein Schrittmacher.

Zum Autor

Max Czollek wurde 1987 in Berlin geboren. Er ist Mitglied des Lyrikkollektivs G13 und Mitherausgeber der Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart. Mit Sasha Marianna Salzmann kuratierte er 2016 den Desintegrationskongress und 2017 die Radikalen Jüdischen Kulturtage am Maxim Gorki Theater. Die Gedichtbände Druckkammern, Jubeljahre und Grenzwerte erschienen im Verlagshaus Berlin, bei Hanser 2018 das Sachbuch Desintegriert euch!.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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