Prä-Pandemischer Kulturkampf

Dirk von Petersdorff An einem Sommertag im letzten Jahr vor der Pandemie rüsten sich die im Osten siedelnden Wessis Jenny und Friedrich für ein Kulturkampf gegen die im Osten gebliebenen Ossis ...

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„Was der Sozialismus hinter sich hat, das hat der Kapitalismus vor sich.“ Heiner Müller

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An einem Sommertag im letzten Jahr vor der Pandemie rüsten sich die im Osten siedelnden Wessis Jenny und Friedrich für ein Kulturkampf gegen die im Osten gebliebenen Ossis, mit der DDR einst und immerdar einverstandenen Rolf und Beate. Außerdem erwartet die Gastgeberin eine Ex ihres Gatten, der jener Tine natürlich auch gespannt entgegensieht. Tine verspätet sich, ist aber am Start, als die Frage in den Raum gestellt: Wo warst du Neunundachtzig?

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„Rolf und Beate kommen zu früh.“

Rolf übernimmt auf der Stelle die Regie. Sofort erfährt man, er wohnt in einem freistehenden Haus - und zwar in Brandenburger Ursprünglichkeit, während die gastgebende Familie ihre Doppelhaushälfte gerade einem notorisch Gereizten zum Kritikfraß vorwirft.

Dirk von Petersdorff, „Gewittergäste“, Novelle, C.H. Beck Verlag, 124 Seiten, 20,-

Am Rand zeichnet Petersdorff eine klandestine Frontlinie nach. Während die Hausherrin und der Hausherr unleugbar zugezogene Wessis sind, fühlen sich ihre Söhne den Einheimischen nah. Der ca. sechsjährige Paul sagt:

„Ich habe … immer hier gewohnt, solange ich mich erinnern kann.“

Alle möchten „tief nach innen Abgesenkte(s) heraufholen“ und die Kettenhunde der Ressentiments von der Leine lassen, aber nur der unverfrorene Rolf macht von Anfang an aus seinem Ostherzen keine Mördergrube.

Wir sind hier in seinem Revier. Das ist der Osten, auch wenn Wessis da wohnen.

Rolf schlägt zu. Beim Essen. Beim Kritisieren des vereinten, auf nichts und so auch auf keine Pandemie vorbereiteten Deutschlands. Er hält eine untergegangene Gesellschaft hoch.

Tine taucht auf.

Plötzlich steht die Frage im Raum: wo warst du Neunundachtzig? Was hast du gemacht, als die DDR aufhörte ein Staat zu sein, der Arbeitsplätze, Wohnungen und Kindergärten garantierte. Beate kam von einer Schulung aus Moskau nach Leipzig. Rolf war bei der Nationalen Volksarmee.

„Ich bin auf einem Schützenpanzer in euer Morgenrot gefahren. Wir waren startklar. Hätte man uns losgelassen, wären wir mit der Roten Armee zusammen in drei Tagen am Atlantik gewesen.“

Friedrich erinnert eine Fahrt mit Tine (nicht mit Beate) über den Brenner, die auch ein Jahr später stattgefunden haben könnte. Es fehlen die Ewigkeitsmarken in seinem Gedächtnis.

Friedrich fühlt den Rückstand. Er versucht, Rolf auf die Rolle zu nehmen. Er will bei Tine punkten und verliert doch immer weiter an Boden in den eigenen vier Wänden. Rolf bleibt konkret, droht mit den Fäusten.

„Hab geboxt. Da fliegen Fluffis rückwärts durch den Raum.“

Kultureller Dissens ohne optischen Anhaltspunkt

Deutsch-deutsche Aushandlungsprozesse. Die Zivilgesellschaft auf hundertachtzig. Petersdorff trifft jeden Dissens-Nagel auf den Kopf. Bei Jenny gähnt nur ein Seminarraum, wenn sie an Neunundachtzig denkt. Nichts störte den Trott, der Staub rieselte, vielleicht leckte ein Hahn, während die DDR einknickte. Und weg war sie.

Was kam davon im Westen an, wenn man beispielsweise in Frankfurt am Main lebte? Ein paar sächsische Kellnerinnen und Kellner, die sich im Ton vergriffen, wie es uns schien. Man platzierte uns nicht. Wir würden sonst unser Geld woanders lassen.

Meinen ersten durchgreifenden Ostkontakt hatte ich erst zehn Jahre später. Um das Jahr 2000 erst wurde mir klar, wie kolossal die Verwerfungen waren. Was das bedeutete, aus der Kurve seiner Verhältnisse getragen worden zu sein.

Eben noch NVA. Jetzt Sicherheitsdienst. Rolf dient dem gesamtdeutschen Gesundheitswesen. Er plädiert für Masken im Vorrat. Friedrichs einschlägige Vorstellungen streifen das Groteske. So geht das immer weiter, und schon klemmt die letzte Flasche Bier in der Pappe des Reserve-Sixpacks. Das Trinktempo überschreitet klischeehaft die Erwartungen. Der Osten pichelt. Er pichelt und grillt und meckert.

Das Titelgewitter fühlt vor. Jenny setzt einen Rumtopf an, um als Gastgeberin im Geschäft zu bleiben; um sich nicht lumpen zu lassen. Es ist eine Frage des Prestiges, genug Sprit für die versammelte Mannschaft zu haben. Jenny will nicht als grünversiffte, moral-vegane Spaßbremse auf die typischste und dämlichste Weise Wessi zu sein.

Die Novelle kriegt einen Dreh ins Skurrile. Es tauchen Leute auf. Ein syrischer Gymnasiast in seiner Nebenrolle als Pizzabote. Ein russischer Soldatendarsteller. Der Gesprächskreis öffnet sich, der soziale Druck entweicht. Der thermische Druck entlädt sich. Das Kammerspiel wird auf einer größeren Bühne fortgesetzt. Die Konzentration auf den Kernkonflikt nimmt ab.

Aus der Ankündigung

Was ein harmonisches Abendessen werden sollte, läuft völlig aus dem Ruder: Jenny und Friedrich, aus dem Westen stammend, im Osten lebend, haben Bekannte aus Brandenburg eingeladen. Mit einer überraschend explosiven Mischung aus schwülem Wetter, kratzbürstigen Gästen und lärmenden NATO-Hubschraubern hinterlässt dieser Abend bei jedem seine Spuren.
Es soll ein anregender, harmonischer Abend werden. Jenny und Friedrich, ein Ehepaar mittleren Alters aus Westdeutschland, das seit einem Jahrzehnt mit den beiden Söhnen in Ostdeutschland lebt, haben Arbeitskollegen Jennys, Rolf und Beate aus Brandenburg, zum Essen eingeladen. Außerdem hat sich Tine, eine ehemalige Freundin Friedrichs, angekündigt. Aber nicht nur das Wetter - ein schweres Gewitter zieht auf - sorgt für erhebliche Unruhe. In der Nähe findet eine NATO-Übung statt und ein ehemaliger Sowjetsoldat, der einem Kameraden nachtrauert, soll sich hier herumtreiben. Vom ersten Moment an bringen Rolf und Beate insbesondere Jenny aus der Fasson und Friedrich in Verlegenheit, sarkastisch, gekränkt, angriffslustig. Noch immer unverstandene west-östliche Seelenlagen brechen sich Bahn, die attraktive Tine, plötzliche Besucher und das tobende Gewitter sorgen für zusätzliche Spannung, und dann gerät auch noch ein Kampfhubschrauber ins Trudeln …

Zum Autor

Dirk von Petersdorff lebt in Jena, wo er an der Friedrich-Schiller-Universität lehrt. Er veröffentlichte u.a. Essays, die Erzählung "Lebensanfang" (2007), den Roman "Wie bin ich denn hierhergekommen" (2018) und mehrere Gedichtbände, zuletzt "Sirenenpop" (2014). Er erhielt u.a. den Kleist-Preis und den Preis der LiteraTour Nord. Er ist auch der neue Herausgeber des "C.H.Beck Gedichtekalenders".

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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