Feuriger Vater

Erzähltes Leben Julia Haart, „Un-Verhüllt. Mein Weg von der ultraorthodoxen Jüdin zur erfolgreichen Modedesignerin“ - Die Autorin schält sich aus biografischen Schichten. Die dünnste Haut liefert der rote „Adel“ des „linientreuen“ Vaters und ...

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„Meine … Eltern waren von Natur aus Gläubige.“

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Im texanischen Exil erlebte die 1971 in Moskau geborene Julia ‚Yulia‘ Haart eine dramatische Verwandlung ihres Vaters. Mit vulkanischer Vehemenz kehrte der einst tiefgläubige Kommunist zu seinen chassidischen Wurzeln zurück. Die Metamorphose stellte auch die Welt der Tochter auf den Kopf.

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Sie ist ein Kind der sowjetischen Nomenklatura. Der feurige Vater besticht auf allen Podien mit schillerndem Sendungsbewusstsein und überbordendem Vortragstemperament. Seinem messianischen Impetus verdankt der ungemein vielseitige Funktionär Michael Haart die Privilegien von Reisekadern in einem an allen Ecken und Enden erodierenden, von Leonid Iljitsch Breschnew beherrschten Staatenbund. Der aus dem ukrainischen Kamjanske (früher Dniprodserschynsk) gebürtige KPdSU-Generalsekretär will nicht, dass die Bevölkerung eine realistische Vorstellung vom Niedergang der Sowjetunion bekommt. Sie soll ihr lokales Elend für singulär halten.

Übrigens ist Breschnew der erste Apparatschik im höchsten Amt ohne oktoberrevolutionäre Vergangenheit.

Julia Haart, „Un-Verhüllt. Mein Weg von der ultraorthodoxen Jüdin zur erfolgreichen Modedesignerin“, die Autobiografie des Stars der Netflix-Serie „My Unorthodox Life“, auf Deutsch von Constanze Wehnes, Anja Schünemann, Knaur, 24,-

Julias Mutter übt Zurückhaltung in allen Lebenslagen. Die Doppeltpromovierte kühlt Charmeoffensiven des Gatten im inneren Eisfach herunter. Das findet der Umschwärmte sexy.

Die Autorin schält sich aus biografischen Schichten. Die dünnste Haut liefert der rote „Adel“ des „linientreuen“ Vaters und dessen Vaters, eines „hochdekorierten Generals“. Haart beleuchtet den moldawischen Hintergrund der einem Erfinder- und Unternehmerhaushalt entstammenden Mutter.

Gleich am Anfang überliefert sie eine das Prägungstheater erhellende Beobachtung.

„Lina, meine Mutter, hatte eine Schwester … Elena. Meine Mutter galt alsdie kluge Schwester, während Elenadie schöne Schwesterwar.“

In Wahrheit waren die Enkelinnen eines Chemikers und Entrepreneurs gleich schön und schick. Doch sollte sich Lina ein Leben lang gegen das Lob für ihr Erscheinung mit Verwunderung zur Wehr setzen.

So funktioniert Konditionierung. Wir reden uns alle gegenseitig etwas ein. Doch sind nicht alle gleich leichtgläubig.

Lina nimmt die Intelligenz-Zuschreibung furchtbar ernst. Sie „beantwortet nie auch nur eine einzige Prüfungsfrage falsch“. Dafür dekoriert man sie mit einer Goldmedaille.

Der charismatische Michael reagiert auf den spröden Charme der ewigen Jahrgangsbesten so entflammt wie vorher auf den Kommunismus und später auf das chassidische Judentum.

Das ist der Satz, der Lesende alles begreifen lässt:

„Meine … Eltern waren von Natur aus Gläubige.“

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Lina friert den Liebesbrand ein. Auf den Spuren ihres umtriebigen Liebsten begreift sie die großen Lügen der Sowjetunion. Die beiden entdecken das Judentum in Kassiber- und Samisdat-Formaten.

„Natürlich war die Religionsausübung verboten.“

Sie verschließen sich in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter. Gemeinsam bilden sie eine effektive Kellerkirche, in der sie auch britisches Englisch und Hebräisch lernen. Lina riskiert dieMikwezum Wohl der Tochter.

Auswanderungsfahrplan

Haart analysiert das ideologische Schisma der Eltern. Der renegaten Drift folgt ein Auswanderungsfahrplan. Julias Amerikanisierung schreitet in Austin voran. Die genialen Eltern vollbringen bei IBM bahnbrechende Ingenieursleistungen. Sie sind „an der Entwicklung des ersten Personal Computers beteiligt“.

Die Geschichte von IBM in Austin.

“In 1967 it was a big deal that IBM had opened a plant in sleepy Austin. The company became an early catalyst in the city’s transformation into a hub for technology and innovation.” Quelle

Geniale Eltern

„DieLubawitscher Gemeinschaftbekehrt verlorene Juden.“

Julia Haarts Vater „stammt aus einer tiefreligiösen chassidischen Lubawitscher Familie“. Die Herkunft diktiert der Familie einen Kurs, der die Spielräume jener verfehlt, die bei ihrer Ankunft in Amerika auch religiöse Lasten über Bord gehen ließen.

„Angeblich liegen im Wasser um Ellis Island unzähligeYarmulkesundTefillin.“

Wer aber das Überkommene in der Neuen Welt bewahrt, erwirbt, so erklärt es Haart, eine Art Adel, vergleichbar mit dem Mayflower-Prestige jener, die ihre Abstammung auf die Pilgrims zurückführen.

Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

Von der verhüllten ultraorthodoxen Jüdin zur Designerin und Unternehmenschefin in New York: Eine mitreißende, wahre Geschichte aus der Welt des ultraorthodoxen Judentums - verfilmt von Netflix

Geboren in eine streng religiöse jüdische Familie und mit 21 verheiratet an einen ultraorthodoxen Juden, kennt Julia Haart die ersten 42 Jahre ihres Lebens nur die Unterwerfung unter die strikten Gebote ihrer Religionsgemeinschaft: Unbedeckte Haare, kurzärmelige T-Shirts, Miniröcke, Bikinis – all dies gilt als Insignien des Teufels.

Und doch ist Julia Haart von Kindesbeinen an fasziniert von der Glitzerwelt der Mode. Als ihre Kinder alt genug sind, beschließt sie, aus ihrem alten Leben auszubrechen – und ihre Leidenschaft für schöne Kleidung zu ihrem neuen Lebensinhalt zu machen. Und das vermeintlich Unmögliche gelingt. Nach der Gründung eines erfolgreichen eigenen Schuhlabels und der Arbeit als Designerin für La Perla gilt Julia Haart heute als eine der bedeutendsten Playerinnen der internationalen Modewelt. In diesem Buch erzählt sie ihre beeindruckende Geschichte.

Zur Autorin

Julia Haart wurde 1971 in Moskau geboren. Ihre Eltern wanderten nach Austin, Texas aus, als sie fünf war. Dort schlossen sie sich einer ultraorthodoxen Sekte an, deren Gesetze und Bräuche Julia Haarts Leben bestimmten, bis sie 2013 die Sekte verließ. Nur eine Woche nach ihrem Ausstieg aus dem ultraorthodoxen Judentum gründete sie ein eigenes Schuhlabel, wurde in der Folge Creative Director bei La Perla und leitet heute als CEO Elite World, die Dachorganisation international führender Model Agenturen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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