Ich kann weinen

Michel Friedman sagt: Es sind schon viele Anfangspunkte der Gewalt überschritten worden - Nachrichten vom Kongress zeitgenössischer jüdischer Perspektiven im Berliner Maxim Gorki Theater

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Jesaja 34,8-10 Denn es kommt der Tag der Rache Haschem und das Jahr der Vergeltung, um Zion zu rächen.

Der erste Kongresstag beginnt mit einem Tora-Frühstück. Besprochen wird die Frage: Wie hält es Gott mit der menschlichen Rache? Schafft Rache Gerechtigkeit? Was kann Rache sein? Viele Einlassungen werden mit dem Buch Esther belegt, jemand sagt: “Rache hat etwas Pauschales.”

Kein Mensch bezweifelt die Notwendigkeit von Rache. Allerdings kann sich Rache symbolisch erledigen. Mit der eigenen Rachebereitschaft delegiert man jedenfalls die Opferrolle an eine Persönlichkeitsperipherie. Eine Esther unserer Tage erklärt geschult: “Ich lasse eine Belastung nicht bei mir, sondern gebe sie nach außen.”

Das Zauberwort lautet Empowerment. Du kannst sein, wie du willst, und es kann sein, wie es will, doch vernachlässige niemals dein Empowerment.

Da steckt viel Weihnachten drin. Eine Engagierte übersetzt Divide et impera mit Spalte und herrsche. Der Scheck ist gedeckt, das geht auch.

Ein amerikanischer Vollbart beschreibt künstlerische Dimensionen der Rache und die Chancen paradoxer Strategien. Foucault muss herhalten. Die von ihm dargestellte Optimierung/Ökonomisierung des Delinquenten in der Erziehungsanstalt Gefängnis als einem kapitalistischen Vorgang, nachzulesen in “Überwachen und Strafen”, rockt deutlich schwächer als Yael, die Gattin des Keniters: “Sie ergriff Pflock und Schmiedehammer und zerschlug Siseras Haupt, bevor sie seine Schläfe zermalmte und durchbohrte.”

Sisera war ein Heerführer auf der Flucht vor Israelis, die härteste Rache ist nach allgemeiner Auffassung das Verschwinden des Andenkens - die Tilgung eines Namens aus dem Buch des Lebens.

So begreifen Buchgläubige die Welt. Der Tag öffnet die Wurstbuden seiner Paradiese, die Kongressswinger unterbrechen sich im Garten des Gorki Theaters in Paare/Passanten-Szenen. Vom Star zum Zausel in dreißig Jahren denke ich mal kurz an Botho Strauß.

Auf einem durchgesessenen Sofa - Michel Friedman im Gespräch mit Sasha Marianna Salzmann

Die jüdische Krux besteht darin, dass jeder glaubt zu wissen, wer du bist. Ehrengast Michel Friedman verkündet das. Man merkt SMS an, wie besonders sie es findet, Friedman auf der Requisitencouch zu haben.

“Willkommen im Ghetto”, sagt Friedman im Vorspiel auf das Gegenteil. “Verlasst die Ghettos”, verlangt er im nächsten Atemzug.

Friedman soll sich selbst beschreiben.

“Ich kann weinen.”

Perplex stiftet Salzmann dem Satz einen Konjunktiv. Friedman besteht aber auf die schlichte Ansage.

“Ich kann weinen und ich weine viel.”

Bei mir landet der Satz in einer Garage gerümpeliger Erinnerungen zwischen Bettina Wegner und Don Corleone. Das ist eine Wahrnehmungsentgleisung. Ich reiße mich gleich wieder zusammen.

Friedman fährt fort: “Ich bin verrückt nach Menschen und ihren Geschichten.”

“Ich bin mehr Gefühl als Verstand.”

Dem Tod steht er ablehnend gegenüber so wie Canetti, der ein Buch gegen den Tod schrieb.

”Ich bin auf einem Friedhof geboren in der Gesellschaft von ungefähr siebenundvierzig Ermordeten.”

Das geschah 1956 in Paris. Als Friedman knapp zehn Jahre später nach Deutschland kam, wirkten bloß noch Widerstandskämpfer und Ahnungslose im öffentlichen Dienst.

“Ich nahm mir vor, mich von diesen Leuten nicht bestimmen zu lassen.”

Friedman setzt auf Streit und Bildung. Gemeinsam mit Bubis ermöglicht er es in herausragender Zentralratsfunktion Juden aus der Sowjetunion nach Deutschland zu kommen, Stichwort Kontingentflüchtlinge.

Salzmann ist das Kind von Kontingentflüchtlingen und Friedman ein leuchtender Stern ihrer Biografie. Friedman wehrt sich nicht nur halbherzig gegen den Verehrungswillen. Plötzlich begreife ich, Friedmans Motor ist nicht die Eitelkeit, die es ihm kaum gestattet zuzugeben, dass auch er ergraut, sondern die Verantwortung für bedrohte Minderheiten. Er gibt seine Kraft in den Kampf gegen die institutionalisierte Gewalt der Mehrheitsinteressenvertretungen.

“Ich würde gern meine Haut abstreifen”, sagt er. “Ich würde so gern mein Unbewusstes kennenlernen.”

Dann ist er wieder da, wo “Wehret den Anfängen” gestern war.

“Es sind schon wieder viele Anfangspunkte der Gewalt überschritten worden. Die Enthemmung der gesellschaftlichen Gewalt steckt in fortgeschrittenen Prozessen und in dieser Geschichte der nächsten Absonderung ist alles mit dem Wort Jude verwandt.”

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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