Judenhass im Internet

Antisemitismus Eine Gleichsetzung mit Rassismus verfehle das Wesentliche am Antisemitismus. Das stellt Monika Schwarz-Friesel in ihrem neuen Buch „Judenhass im Internet“ fest

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Gegendemonstranten bei der diesjährigen Al-Quds-Demonstration in Berlin
Gegendemonstranten bei der diesjährigen Al-Quds-Demonstration in Berlin

Foto: Omer Messinger/Getty Images

Monika Schwarz-Friesel isoliert Judenfeindlichkeit von allen möglichen Vorurteilssystemen. Eine Gleichsetzung mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verfehlt das Wesentliche am Antisemitismus. Das Antisemitismusphantasma gehört seit zweitausend Jahren konstituierend zu allen Kulturen, die der ersten monotheistischen Religion folgten. Im Antisemitismus stecken regressive Potentiale des Christentums und des Islams.

Das stellt die Kognitionswissenschaftlerin behutsamer fest als ich. Auf der Grundlage von Korpusanalysen mit großen natürlichen Datenmengen erforschte sie in einer Langzeitstudie die antisemitische Internet-Virulenz. Schwarz-Friesel wiederlegt die allseits verbreitete wohlfeile These von der „Abnahme der Zustimmung zu klassischen Formen des Antisemitismus“. Das Post-Holocaust-Bewusstsein für das (das eigene Fortkommen nicht hindernde) Sagbare erzeugt einen irreführenden, seine negativen Ladungen an den Unterseiten der Begriffe transportierenden Text der Uneigentlichkeit. Das Verschweigen des Antisemitismus (als einer doppelten Kulturmarke) ankert im Habitus einer Korporation. Schwarz-Friesel spricht von der „sprachlichen Kodierung judenfeindlicher Ideen“.

Georg Simmel begreift Antisemitismus „als Nebenprodukt der Zivilisation“. „Die große Explosion des Antisemitismus“ (Max Horkheimer) war kein Unfall der Geschichte. Seine Einordnung als zivilisatorische Entgleisung ist weniger als eine geeignete Entlastungsstrategie, auch wenn Schwarz-Friesel vom „Zivilisationsbruch“ spricht. Wie in einer kollektiven Psychose lief Jahrzehnte alles Mögliche auf den Holocaust zu und zwar so sehr im Schubverbund mit bürgerlichen Maßstäben, dass die Maßstäbe als Korsett des seelischen Überlebens der Täter*innen nicht versagten. Eine Tragik des Holocausts liegt in Verhältnissen, die den Täter*innen ein persönliches Weitermachen erlaubten und sogar Gewinne aus der Tabuisierung des offenen Antisemitismus nach Fünfundvierzig gestatteten. Antisemitismus avancierte zum heimlichen Wissensvorsprung in Umkehrung seiner Voraussetzungen bis Fünfundvierzig. Freud beobachtet in seiner „Massenpsychologie“ reaktive Veränderungen des Einzelnen sobald ihn eine Masse ansaugt. Es kommt zu Vereinheitlichungen und Vereinfachungen im Zuge eines Abtrags des „psychischen Oberbaus“. Diesen homogenisierenden Abtrag stellten Antisemit*innen nach Fünfundvierzig dem Kollektiv in Rechnung, als etwas, dass notwendig da ist, nur eben gerade mal nicht so sichtbar wie vorher. Da liegt der antisemitische Hase im Pfeffer, oder, um es mit Natan Sznaider zu sagen: „Ohne Christentum und Islam keinen Antisemitismus.“

Schwarz-Friesel erklärt die Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Judenhass für ungültig. Der Post-Holocaust-Antisemitismus ist nichts anderes als der „klassische Antisemitismus“. Man verwendet dieselben Bilder und genießt im Internet eine barbarische Verbreitungsmacht.

Schwarz-Friesel charakterisiert das Internet als „fünfte Gewalt“.

„Das Netz erzeugt nicht den Hass, sondern spiegelt“ ihn.

Die Hasssprache löst epigenetische Prozesse aus. „Für das Gehirn macht es kaum einen Unterschied, ob Gewalt physisch oder geistig erfahren wird.“

Eingebetteter Medieninhalt

Im Geleit der Hassbotschaften grassieren Verschwörungstheorien. Schwarz-Friesel weist darauf hin, wie unfassbar schwer es für junge Verbraucher*innen ist, den Meinungsmüll von gehärteten Informationen zu unterscheiden. Für den Nachwuchs kann eine Hasspredigt die Valeurs engagiert vorgetragener Nachrichten haben.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, einen weiteren Bogen zu schlagen. Vor ein paar Jahren ging Schwarz-Friesel den entgegengesetzten Weg in der Auswertung von vierzehntausend Briefen, halben Romanen darunter, die den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Israelische Botschaft in Berlin ständig erreich(t)en. Jede Menge moralisch grundierte Selbstdarstellungen lösten den Würgereiz aus: gefällige Spiegelungen des zeitgenössischen Antisemiten, der eben dies aus lauterem Herzen bestreitet: Antisemit zu sein. „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ weist nach, wie sich verbaler Antisemitismus maskiert. Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz stellten fest: 65% der Schreiber kommen aus der gesellschaftlichen Mitte. Sie melden sich mit Namen und Titel und bitten um Stellungnahme.

„Diese Leute sind nicht gestört“, erklärte Professor Schwarz-Friesel bei der Präsentation des Titels.

Wie artikuliert sich Judenfeindlichkeit? Schwarz-Friesels erste Analyse zeigt Strategien des direkten und indirekten Verbal-Antisemitismus, auch da, wo er nicht intensional ist – und aus unbemerkt verinnerlichten judeophoben Stereotypen kommt: aus Ressentiments und Verschwörungstheorien, die seit Jahrhunderten tradiert werden. Aus dem Prospekt vom „Juden als ewigem Fremden, dem Landräuber und Bedroher des Weltfriedens“ mutiert der das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Impetus: „Israel bedroht den Weltfrieden“.

Da wird Grass zum Epigonen. Seinem Was-gesagt-werden-muss gingen zweitausend Autoren mit dieser Formulierung voran. Im indirekten Sprechakt liest sich das so: „Entspricht womöglich die exzessive Gewalt in Israel, die auch den Mord an Kindern einschließt, der langen Traditionslinie ihres Volkes?“

Man unterstellt Juden unwandelbare Eigenschaften. In den Briefen ploppen Krankheitsmetaphern, Zersetzungsbegriffe, Fremdheitszuschreibungen, beiläufige und explizite Entwertungen auf – und gern auch Verharmlosungen und Relativierungen des Holocausts.

Auch nach Fünfundvierzig waren manche Deutsche in der Rede eines Bischofs „Volksgenossen fremden Stammes“. Wolfgang Borchert fand die Lage „der deutschen“ Kriegsverlierer nicht weniger tragisch als den Holocaust. Schwarz-Friesel spricht von Empathie-Verweigerung auf der ganzen Linie: als einem Merkmal auch des nicht intensionalen Verbal-Antisemitismus (mit Relativierungseifer).

Beschworen wird das angebliche „Tabu, etwas gegen Juden sagen zu dürfen“. In einer Welt voller antisemitischer Bemerkungen entlarvt es sich nicht einfach als das, was es ist – nämlich als eine Fiktion. – Ein Phantasma aus dem Fundus der Obsessionen. Von der Realität wird dieses „Tabu“ verfehlt, die Verfehlung bleibt aber unbeachtet. Stattdessen „emanzipiert“ sich der Antisemit „von einer Meinungsdikatur“. Die Presse erklärt er für „gleichgeschaltet“. (Eine Variation: Die Israelis stehen der SS in Nichts nach.)

„Derealisierung“ nennt die Fachfrau das Phänomen. Es wird ein phantastisches Bild der Wirklichkeit entworfen, das führt zu kollidierenden Aussagen. Die Widersprüche verbergen sich im Meinungsfuror. Sogar im bekennenden Antisemitismus stellt sich die Legitimationsfrage.

Untergegangenes taucht auf

Was aber, wenn der Antisemitismus im Kontext seiner Feststellung untergeordnet ist oder sich lediglich an den Erklärungsabsichten des Sprechers indianisch vorbeischleicht? Die Korpus-Analysen ergeben allbekannte Tummelplätze der Stereotypen. „Rachsucht und Geldgier“ tauchen als „generische All-Aussagen“ auf.

Vom Grenzregime der sozialen Kompetenz abgestellte Wächter weisen alles und jeden zurück, der als Karrieresaboteur unbedingt die gefühlte Wahrheit sagen möchte.

Was übersehen und überhören die Wächter?

Das furiose Lamento in den Kommentarspalten zeigt die Gesellschaftstemperatur an. Gemessen wurde er von Schwarz-Friesel und ihren Mitarbeiter*innen in den Themenkreisen Nahostkonflikt, Israel, deutsche NS-Vergangenheit, Verlautbarungen des ZJD, Flüchtlingskrise. Ein Vergleich erfasste die Jahre 2007, 2009, 2012, 2014 und 2017. Ein Kodierleitfaden klassifizierte die Proben.

Fraglich war, wie kommt der auf den Allgemeinplätzen der Jahrhunderte breitgetretene Judenhass durch die Filter des opportunistischen Post-Holocaust-Bewusstseins in den Kommentarspaltensickergruben der Jetztzeit an? Welche Transformationen durchläuft er und welche Energien mobilisieren ihn?

Die Antwort:

„Antisemitismus ist trotz Auschwitz ungebrochen und wegen Auschwitz zusätzlich mit Schuld- und Schande-Abwehr vorhanden.“

„Israelbezogener Antisemitismus und Antizionismus“ ergänzen als Abwurfstellen judenfeindlicher Affektäußerungen seit 1948 das Programm. Alles, was die antisemitistische Literatur und Theologie in zweitausend Jahren an mörderischen Klischees produziert hat, findet ein auf Israel gemünztes Äquivalent. Die Unredlichkeit einer Trennung der Israelkritik vom Antisemitismus findet in Schwarz-Friedels Analyse starke Indikatoren. Es geht nicht um das, was Israel ist. Es geht darum, dass Israel dem Antisemitismus eine weitere Fläche bietet, auf der man mit Täteropferumkehrmodellen experimentieren kann.

„Unfassbar aber die Israelis haben aus unserer gemeinsamen Geschichte nix gelernt, aber zum glück wir sonst …“

Die Orthografie gehört zum Original.

Ein prominentes Beispiel für Antisemitismus verleugnenden Antisemitismus ist die sich antiisraelisch ausweisende Kampagne für einen Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS). Sie wurde 2005 von palästinensischen Organisationen gegründet und hat von Desmond Tutu über Ken Loach bis Judith Butler Fürsprecher*innen. Diese Leute bezeichnen Israel als „Apartheidstaat“ und reden von „ethnischen Säuberungen“. Auch der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn bleibt als schillernde Figur im Spektrum der Satisfaktionsfähigkeit.

Es gibt nun einen Antisemitismus im Namen der Menschenrechte. Corbyn nennt seine fundamentale Israelkritik „antirassistisch, antikolonialistisch und antiimperialistisch“.

Israel ist in dieser Lesart ein verspätetes Kolonialreich, dem man im Geist der afrikanischen Freiheitsbewegungen den Kampf ansagen kann, ohne sich als Antisemit erwischen zu lassen.

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Monika Schwarz-Friesel, „Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl“, Hentrich & Hentrich 168 Seiten, 17.90 Euro

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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