Sedierende Formulierungen

Antisemitismus Lipstadt stellt fest: Obwohl sowohl die EU als auch die USA Hamas und Hisbollah als Terroragenturen einstufen, nennt Corbyn Parteigänger*innen der … „Freunde“.

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Real-Fiktiv

Deborah Lipstadt wählte die Form des Briefromans, um den akuten Antisemitismus so zu überliefern, wie er in der Gesellschaft ankommt: als Invektive hier und als Anschlag da. Während das Personal fiktiv ist, sind die Sorgen der Protagonist*innen real.

Deborah Lipstadt, „Der neue Antisemitismus“, aus dem Englischen von Stephan Pauli, Berlin Verlag, 301 Seiten, 24,-

Die Stichwortgeber*innen beschreiben Beobachtungen und zitieren Bemerkungen. Unbehagen kleidet die als Zeugnisse deklarierten Notizen ein. In ihren Antworten strebt Lipstadt oft zur anekdotischen Evidenz und gibt der Anschaulichkeit Raum. Sie kontextualisiert zeitgenössische Ausprägungen stereotypischer Zumutungen. Sie arrondiert.

Lipstadt stellt fest: Obwohl sowohl die EU als auch die USA Hamas und Hisbollah als Terroragenturen einstufen, nennt der britische Labour-Politiker Jeremy Corbyn Parteigänger*innen der genannten Organisationen „Freunde“.

Nehmen wir den Fall Jeremy Corbyn und leiten von seinen Strategien die Methode ab, dann ergibt sich folgendes Bild: Jemand äußert sich zwar nicht antisemitisch, zeigt sich aber im direkten Umgang mit Antisemit*innen aufgeschlossen. Stellt man ihn, weicht er in den Moderationsmodus aus. Benennt man das als verkappten, kupierten oder transferierten und tiefgelegten Antisemitismus, läuft man Gefahr, mit dem Vorwurf einer gegenstandslosen Anklage gekontert zu werden.

Eine Akteurin des verhohlenen Antisemitismus könnte dem bloßen Verdacht Nahrung geben, nur um die anvisierte Gerechtigkeitskriegerin zu verleiten, sich mit einer Unhaltbarkeit auf der Agora ins Unglück zu stürzen.

Lipstadt spricht vom Debatteneifer. Sich zu erhitzen, bleibt gefährlich. Lipstadt erklärt den Vorzug einer Fragestellung, die nicht zuerst den Konnotationen eines Verhaltens Rechnung trägt, sondern den Konsequenzen. So wird es einfacher, Klarheit zu erlangen: und folglich zu erkennen, dass Corbyn „die Ausbreitung von Antisemitismus ermöglicht“.

Also verhält er sich antisemitisch, ohne als Antisemit in Haftung genommen werden zu können. Zu solchen Loopings versteigt sich mitunter auch Donald Trump, dem Lipstadt (anders als Corbyn) keine ideologischen Motive für antisemitische Ausfälle unterstellt. Trump macht Politik mit allen Mitteln. Das muss man nicht ausführen. Lipstadt bringt ihn als Beispiel für Franklin Foers „Bemerkung, dass Philosemiten Antisemiten seien, die Juden mögen“.

Lipstadt behauptet, Trump könne jederzeit auf eine offensiv antisemitische Gefolgschaft zurückgreifen. Sie belegt das mit Rache-Reaktionen nach einem Artikel von Julia Ioffe über Melanie Trump. Trumps Gefolgschaft wurde von „der antisemitischen Website InfoStormer“ aktiviert. Die Betreiber riefen „ihre Anhänger dazu auf, Ioffe wissen zu lassen, `was ihr von ihren dreckigen Judentricks haltet`.“ Trump weigerte sich, den Aktivismus zu seinen Gunsten in einen Korrekturrahmen zu stellen. Das ist keine singuläre Schweinerei. „Trump nahm eine ähnliche Haltung“ ein, als der Ex-Ku-Klux-Klan-Chef und Holocaustleugner David Duke seine Kohorte den Trump-Enthusiasten zuführte. „Als Verfechter der … White Supremacy sind amerikanische Bürger für (solche Leute) weiß und Christen.“ Sie „salutieren“ dem „Weißen Amerika“, ohne indes „als Neonazis und Judenhasser“ aufzutreten.

Sedierende Formulierungen

Ein Agent echter Informationen, die Lipstadt auf der Folie einer Fiktion verbreitet, weist sich als Kleinstädter mit Hinterwäldler-Hintergrund aus. Joe wuchs unter Leuten auf, für die Rassismus kein Problem ist. Ihre „weiße Überlegenheit“ stellen sie offen zur Schau. Ihr Hass diffundiert im Allgemeinen und zieht „Juden, Schwarze, Latinos, Schwule“ in eine Klammer.

Einige erträumen sich einfach nur ihren Sündenbock.

Im örtlichen Country Club gibt es keine jüdischen Mitglieder. Die Segregation vollzieht sich nonverbal. Anspielungen sind nicht nötig, um den antisemitischen Konsens aufrecht zu erhalten. Lipstadt bezeichnet die Repräsentanten dieser Spielart des Antisemitismus „Salon Antisemit*innen“. Im Stadtrat vermeiden sie mit sedierenden Formulierungen Veränderungen des „Bevölkerungsgleichgewichts“.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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