Alois Berger - Die Umsiedlerin auf Bayrisch

#TexasText/Jamal Tuschick Alois Berger, „Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte“ - Bis zu 5800 Juden lebten in der Spanne von 1945 bis 1957 in Wolfratshausen nah der Isar ...

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Alois Berger verschränkt die Geschichte des oberbayrischen Displaced-Persons-Camps Wolfratshausen-Föhrenwald mit seiner eigenen Biografie. Er wuchs in Wolfratshausen auf. In seiner Kindheit und Jugend entging ihm die mehrheitsgesellschaftliche Überformung einer historischen Präzedenz im Holocaustkontext. In der Konsequenz administrativer, von der katholischen Kirche dynamisierter Strategien wurden städtische Schicksalsspuren von Shoa-Überlebenden dem Vergessen anheimgestellt. Einvernehmlich breiteten die Bürger:innen den Mantel des Schweigens über ein Kapitel ihrer Stadt- und Schuldgeschichte. Im Verdrängungsgalopp gingen sie zur Tagesordnung über.

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„Die Menschen, die (David Ben Gurion 1945) in den DP-Lagern vorfand, waren zwar zu allem bereit, aber sichtbar nicht mehr zu allem fähig.“ Alois Berger

Die Umsiedlerin auf Bayrisch

„Mit stinkender Frechheit abgrundtief das eigene Nest beschmutzt.“ Die SED zu Heiner Müllers nach der Premiere auf einer Karlshorster Studierendenbühne abgesetzten „Umsiedlerin“ 1961

Die Aussicht auf den „gemeinsamen Untergang (der Systeme) im Frost der Entropie“ (öffnet den Blick für) eine Wirklichkeit jenseits des Menschen“, sagt Heiner Müller. Acht Monate nach der mitunter unfreiwilligen „Umsiedlung … der letzten siebenhundert Föhrenwalder Juden … im Februar 1957 … taufte die Regierung von Oberbayern (den nun ehemaligen Standort) des letzten … Schtetls in Europa … in Waldram um“. Waldram hieß der Gründungsabt des Klosters Benediktbeuern. So patronierte man den vormals jüdischen Stadtteil von Wolfratshausen mit einer katholischen Galionsfigur. War das Exorzismus?

Alois Berger, „Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte“, Piper, 236 Seiten, 24,-

Bis zu 5800 Juden lebten in der Spanne von 1945 bis 1957 in Wolfratshausen nah der Isar. Wären sie in die mehrheitsgesellschaftlichen Aushandlungsprozesse integriert gewesen, „hätte Wolfratshausen einen jüdischen Bürgermeister und eine jüdische Zwei-Drittel-Mehrheit im Gemeinderat haben können“.

Das Gravitationszentrum lag in einer ursprünglich nationalsozialistischen Mustersiedlung. Während des Dritten Reichs war das Ensemble zur Unterbringung von Zwangsarbeiter:innen genutzt worden, die in Munitionsfabriken gefährliche Arbeiten verrichten mussten. Ab September 1945 nutzten die Alliierten Föhrenwald als Auffanglager für Displaced Persons.

Rabbiner studierten an der „University for Rabbis“. Erste Re-Emigrant:innen, die im Gelobten Land nicht klargekommen waren, sammelten sich im letzten europäischen Schtetl. Offiziere der israelischen Armee und ihrer Vorläuferinnen trainierten in der Gegend. Zehn Kilometer südlich von Föhrenwald befand sich, direkt an der Isar, das Camp, in dem Wehrübungen für den Kampf um Israel stattfanden. Bereits im Januar 1946 agierte illegal eingereiste Agent:innen der Haganah vor Ort.

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Die fruchtbarste jüdische Gemeinschaft der Alten Welt formierte sich im Jahr der Befreiung in Oberbayern. Die Überlebenden heirateten wie am Fließband. Ein Hochzeitskleid diente allen Bräuten. Nicht wenige Paare kannte sich zum Zeitpunkt der Eheschließung erst seit Wochen. Sie einte der Wunsch und Wille, die jüdische Welt in Gang zu halten mit den Mitteln der Zeugung nicht zuletzt. Die mit Stacheldraht und einem Schlagbaum abgeschlossene Siedlung funktionierte als autonome Einheit mit Synagogen, Mikwe, Schulen, Kindergärten, Theatern, Sportvereinen und Zeitungen.

Der chassidische Rabbi Jekusiel Jehuda Halberstam schlug die Pflöcke des Regelrechten der Orthodoxie ein. Bald gab es eine Jeschiwa, einen Cheder, eine koschere Küche sowie eine Beth-Jakob-Schule. Die Verkehrssprache war Jiddisch.

Kontinuitäten ergaben sich in Prozessen erzwungener Bewährung von Strukturen. Die restriktive Einwanderungspolitik klassischer Aufnahmeländer machte die Aufgabe von Provisorien zugunsten ausgebauter Verhältnisse nötig. Viele mussten jahrelang Geduld beweisen, bevor sie dem Täterland den Rücken zukehren konnten. Ausreiseanträge wurden wegen TBC-Diagnosen abgelehnt. Die sukzessive Auflösung anderer DPs-Einrichtungen bewirkte einen stetigen Zustrom von Personen, die physisch oder psychisch außerstande waren, ihren Radius zu erweitern.

1951 übertrug die UN-Flüchtlingshilfe der bayrischen Landesregierung die Lagerverwaltung. Auf der Agenda der deutschen Administrator:innen stand die Schließung des Lagers an erster Stelle. Doch widersetzte sich die normative Kraft des Faktischen dem Behördenehrgeiz.

1955 veräußerte der Freistaat Föhrenwald an die katholische Kirche. Die neue Eigentümerin vermietete freiwerdende Häuser systematisch an katholische ‚Heimatvertriebene aus den verlorenen Ostgebieten‘. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde die Hauptsynagoge in eine katholische Kirche verwandelt.

Aus der Ankündigung

Föhrenwald, das vergessene Schtetl - Die letzte jüdische Siedlung in Europa

Von 1945 bis 1957 lebten im bayerischen Wolfratshausen im Ortsteil Föhrenwald zeitweise mehr als 5000 Juden, Überlebende des Holocaust – mit Synagogen, Religionsschulen und einer eigenen Universität für Rabbiner. Föhrenwald hatte eine jüdische Selbstverwaltung, eine jiddische Zeitung und eine jüdische Polizei. 1957 wurde Föhrenwald aufgelöst, die Bewohner auf deutsche Großstädte verteilt. Föhrenwald wurde umbenannt und aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Der Ort steht exemplarisch für einen weitgehend unbekannten Teil der deutschen Geschichte. Der Autor ist dort aufgewachsen, er hat das Schweigen erlebt. Er verwebt die Spurensuche in seiner Heimat mit den Geschichten der Überlebenden – denen, die nach Israel gingen, und denen, die aus dem Land der Täter nicht wegkonnten.

„Ich habe meine gesamte Jugend in einer Art Theaterkulisse verbracht, einer sehr schönen, fast kitschigen Theaterkulisse mit verschneiten Bergen am Horizont, glasklaren Seen, mit malerischen Bauerndörfern und barocken Kirchen. Natürlich war das alles real, aber die Bilder im Kopf bekamen zerschlissene Ränder und fadenscheinige Stellen, als ich herausfand, dass mitten in dieser friedlichen Landschaft ein blinder Fleck war, eine sehr große undurchsichtige Leerstelle, über die nie geredet worden war.“ Alois Berger

Zum Autor

Alois Berger, Jahrgang 1957, studierte Philosophie und Politik. Er war viele Jahre EU-Korrespondent der taz in Brüssel sowie Radio- und Fernsehreporter für DLF, WDR und Dokumentarfilmer für ARTE. Er lebt als freier Journalist in Berlin.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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