Apokalyptischer Sex

#TexasText/Jamal Tuschick Joan Didion, „Das weiße Album“ - 1968 beobachtet die Reporterin eine Session der 'Doors', zunächst ohne Jim Morrison. Reißerisch bilanziert sie: „Die 'Doors' waren die Norman Mailers der Top 40, Missionare des apokalyptischen Sex.“

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Weiße Pest

Joan Didion beschwört den Charme der kalifornischen Bourgeoisie in revolutionären Zeiten. Die High Society von Neunundsechzig kokettiert mit Umsturzphantasien und einem Riot-Phantasma. Sie verkleidet sich als Avantgarde und frönt dem Radical Chic.

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„Alles Stehende und Ständische verdampft.“ Karl Marx und Friedrich Engels 1848

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Die industriell befeuerten demografischen und geografischen Expansionen der Europäer:innen* im 19. Jahrhunderten wirkten sich in Afrika, Amerika, Australien und Asien als „weiße Pest“ (Niall Ferguson) aus.

Aufgegebene Botschaften

Daheim ist sie in einer Gegend von Hollywood, deren Territorialfürsten dem nächsten Aufschwung entgegengähnen. Bis dahin überlassen sie kolossale Anwesen, aufgegebene Botschaften vor allem, dem Verfall. Der Mix aus post-diplomatischer Noblesse und Verkommenheit koloriert semischicke Szenen, in denen Bands und Selbsthilfegruppen sich nach den Standards der Dekade in dem Slum auf Probe breitmachen.

Medium des historischen Augenblicks

1968 beobachtet Didion eine Session der Doors, zunächst ohne Jim Morrison.

„Die Doors waren die Norman Mailers der Top 40, Missionare des apokalyptischen Sex.“

Die zumal von Jim Morrison ausgegebenen Parolen entfalten ihre volle Wirkung. Der singende Dichter erscheint als Medium des historischen Augenblicks. In „schwarzen Lackhosen (und) ohne Unterwäsche“ diktiert er der Reporterin den Text der Stunde.

„Morrison war es, der die Doors als erotische Politiker bezeichnet hatte.“

Joan Didion, „Das weiße Album“, Reportagen, aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel, Ullstein, 22.99 Euro

Didion erinnert an vergessene und unvergessene epochale Gestalten. Sie erwähnt den fiktiven Charakter Thomas Buchanan, den messianisch auf Jesus‘ Spuren jordannah verdursteten Geistlichen James Pike und Huey Newton, den Didion im Gefängnis besucht, wo sie Eldridge Cleaver trifft.

Die rasende Reporterin trifft Janis Joplin in After-Show-Party-Laune.

„Sie wollte einen Cocktail mit Brandy und Bénédictine im Wasserglas.“

Stars setzen exzentrische Marken. Sie verlangen unpassende Gläser und ausgefallene Spirituosen. Jene Normalsterblichen, die sie in den Gleitphasen erleben dürfen, zwingen die Außerirdischen auf ihre Umlaufbahnen. Da ticken die Uhren anders. Mittagessen um Mitternacht ist normal.

Didion glaubt, ihre Duldungsstarre so aussehen lassen zu müssen, als fühle sie sich gut unterhalten.

Kalifornische DNA/Riot-Phantasma

Didion beschwört den Charme der kalifornischen Bourgeoisie in revolutionären Zeiten. Die High Society kokettiert mit Umsturzphantasien und einem Riot-Phantasma. Sie verkleidet sich als Avantgarde.

„Eine irre, verführerische Spannung breitete sich unter den Leuten wie ein Wirbelsturm aus.“

Didion halluziniert nicht enden wollende Vollmondnächte, in denen Hunde pausenlos anschlagen. Das bürgerliche Gefühl der Sicherheit löst sich in Angst auf.

Mord und Wahnsinn bringen den luxuriösen Hollywood-Trott nicht aus dem Tritt. Didion sitzt im Seichten des Pools ihrer Schwägerin in Beverly Hills als sie am 9. August 1969 die Kunde von Sharon Tates Ermordung erreicht.

Retrospektiv zieht die Chronistin das Grauen in die Klammer:

„Ich erinnere … dass niemand erstaunt war.“

Im nächsten Augenblick widmet sich Didion dem Momentum des Radical Chic. Sie erzählt, wie unangefochten Linda Kasabian auftritt.

„Sie trug ihr Haar ordentlich.“

„(Kasabian) … war Mitglied der … Manson Family und Kronzeugin im Tate-LaBianca-Mord-Prozess (Wikipedia).“ Sie behauptete, lediglich Fahrerin jenes Autos gewesen zu sein, in dem die Mörder:innen Susan Atkins, Charles Watson und Patricia Krenwinkel das Anwesen von Sharon Tate und Roman Polanski am Cielo Drive in Bel Air erreichten.

Aus dem mäandernden Erinnerungsfluss taucht „ein kurzes Seidenkleid“ auf, das Didion am Morgen des Todes von John F. Kennedy 1963 bei Ransohoff’s in San Francisco kaufte. Jahre später ruinierte (der noch nicht mit Sharon Tate verheiratete) Polanski das Kleid auf einer Dinnerparty mit Rotwein.

Didion kombiniert Weltereignisse mit dem Schmauch des Privaten zu einem Muster, das sich einprägt. Wie ein Fleischfaden zwischen den Zähnen … Tagelang denke ich darüber nach, ob es einen Unterschied macht, ob eine Prominente dir dein Kleid versaut oder bloß die bedeutungsarme Achtlosigkeit in Person.

Aus der Ankündigung

»Diese Sammlung kritischer Reportagen über die späten Sechzigerjahre in ihrem Heimatstaat Kalifornien, machte Didion zum Star des New Journalism.« Süddeutsche Zeitung Das weiße Album ist ein essenzielles Werk und ein Klassiker der amerikanischen Autobiografie. In ihren Essays untersucht Joan Didion mit der ihr eigenen Klarsicht Akteure, Schlüsselereignisse, Bewegungen und Trends der Sechzigerjahre – darunter Charles Manson, die Black Panther und Shopping Malls. Aus einer intellektuellen Verstörung heraus schreibt sie über den American Dream, einen Traum, der auch im Scheitern nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt hat.

Zur Autorin

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war u. a. Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion verstarb im Dezember 2021.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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