Giuliano da Empoli - Der Sotschi-Coup

#TexasText/Jamal Tuschick Giuliano da Empoli, „Der Magier im Kreml“ - In einem langen Monolog definiert Putins privatisierender Ex-Berater Wadim Baranow den historischen Rahmen, in dem der russische Präsident handelt.

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„Russland ist die Albtraummaschine des Westens.“ Giuliano da Empoli, „Der Magier im Kreml“

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„Putin könnte jeden Kriegsausgang als Sieg verkaufen.“ Michail Chodorkowski in einem „Standard“-Interview mit Fabian Sommavilla, Quelle

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„Die Tötung eines wichtigen Mannes tröstet die Massen über ihre Mittelmäßigkeit hinweg.“ Giuliano da Empoli

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„Wir fühlten uns wie in einem Science-Fiction-Film … die Zivilisation war zusammengebrochen und wir hatten die Welt geerbt.“ Alexander Sergejewitsch Saldostanow über die Situation in Moskau um 1990; zitiert nach Giuliano da Empoli

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„Das Sowjetleben zeigt das Resultat, das Ungeheure der ständigen Massenleistungen. Ich sah am 1. Mai den Triumph über die Schwierigkeiten, die die Umgestaltung einer neuen Welt bringt. Den Triumph, dass man jene Schwierigkeiten hier nicht kennt, unter denen die ganze übrige Welt leidet und die sie nicht überwinden kann.“ Bertolt Brecht 1935

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Aus dem Spiegel vom 28.04. 1969:

„In Moskau aber erwartete der Diktator das Symbol des Sieges - so Stalin über Schukow. Ob er eigentlich das Reiten verlernt habe, fragte ihn Stalin, als sich Schukow bei ihm am 19. Juni meldete, Schukow verneinte. Stalin: Gut, Sie werden die Siegesparade abnehmen. Ich rate ihnen, nehmen Sie den Schimmel, den Ihnen Budjonny zeigen wird.

Schukow soll sich zunächst gesträubt haben, aber drei Minuten vor zehn Uhr am 24. Juni 1945 ritt er auf dem Roten Platz unter den Klängen von Glinkas Gloria-Marsch der Feier des Sieges entgegen - seines Sieges.“

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„Der Putinismus hat den systemischen Sadismus des Stalinismus übernommen.“ Igor Jakowenko

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Das „Stalin-Epigramm“ - In dem heimlich geschriebenen und verbreiteten Gedicht aus dem Jahr 1933 charakterisiert Ossip Mandelstam den Chef der Sowjetunion als „einen Verderber der Seelen und Bauernschlächter“.

„Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten.“

Die lyrische Subversion bildete den Auftakt der Ächtung und Vernichtung Mandelstams in mehreren Akten. Putin rehabilitiert Stalin, dessen unmenschliche Ordnung in seinen Augen eine so überzeugende Traditionslinie liefert, dass er sie verlängern will.

Gesellschaftlicher Exorzismus

In einem langen Monolog definiert Putins privatisierender Ex-Berater Wadim Baranow den historischen Rahmen, in dem der russische Präsident handelt. Putin verfolgt eine Traditionslinie von Stalin bis zu Iwan IV., dem ersten Moskauer Großfürsten, der sich (im 16. Jahrhundert) zum Zaren ausrufen ließ. Er argumentiert mit einer tausendjährigen Reichshistorie und einer russischen Welt, die nur vorübergehend als Sowjetunion firmierte, indes ewig ist in ihren weit gesteckten Grenzen.

Giuliano da Empoli, „Der Magier im Kreml“, Roman, 265 Seiten, C.H.Beck, 25,-

„Putins Streben nach Macht ist globaler Natur“, behauptet Nicolas Tenzer in seinem Aufsatz „Putin und die Offensive an der Peripherie“. Tenzer weist auf einen interessanten Punkt hin. Putins Russland ist „nicht mehr mit einem derart entschlossenen Feind konfrontiert … wie es die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zu Zeiten des Kalten Kriegs gewesen (sind)“.

Die Kanalisierung des Volkszorns

In Putins Perspektive, so wie Baranow sie sympathisierend kolportiert, entsprach der stalinistische Staatsterror einem gesellschaftlichen Exorzismus. Er linderte und kanalisierte den Volkszorn als einer Machtkonstante, auf die jeder Herrscher eine Antwort finden müsse. Baranow beschreibt, wie sich der Kreml unter Putin wieder in einen Fürstenhof verwandelte. In den einschlägigen Prozessen gewinnt die Anlage verlorene Dimensionen zurück. Putins Herrschaftsanspruch öffnet ein Zeitfenster zum ursprünglichen Gepräge und den Konturen einer Burg an der Moskwa.

„Ein winziger Kontrollverlust kann einen Riss im Gebäude verursachen.“

Baranow widmet sein Soliloquium dem zweiten Erzähler des Romans. Baranow macht den Namenlosen zum Stellvertreter eines kindischen Westens, dem die letzten Wahrheiten über das Wesen der Menschheit niemals aufgehen werden. Als Putins Vertrauter habe er (Baranow) lediglich „den Fluss der (volkstümliche) Wut“ zu steuern versucht.

„Der kreativen Kapazität einer Macht, die bereit ist, mit der nötigen Entschlossenheit zu handeln, sind keine Grenzen gesetzt, vorausgesetzt, sie hält sich an die Grundlagen einer jeden Erzählkonstruktion. Die Grenze wird nicht durch den Respekt vor der Wahrheit, sondern durch den Respekt vor der Fiktion vorgegeben.“

Der Gastgeber erzählt von einer Begegnung mit Eduard Weniaminowitsch Limonow, den weltläufigen Gründer der „Nationalbolschewistischen Partei Russlands“. Limonow zog eine Linie des Niedergangs vom Duellverbot zu Richelieus Zeiten bis zum Vaterschaftsurlaub als einer westlichen Errungenschaft.

„Die Amerikaner sind Zombies; es gibt keine größere Sünde, als sein Leben zu vergeuden … Sie werden nicht eine Sekunde von dem Gedanken gestreift, dass der Zweck der menschlichen Existenz nicht darin besteht, so bequem und so lange wie möglich zu leben.“

Baranow hebelt das westliche Überlegenheitsphantasma aus. Er zerlegt den Kern sämtlicher westeuropäischer und nordamerikanischer Gewissheiten.

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Baranow besitzt die Unverfrorenheit, sich im engsten Kreis der Kreml-Herrschaft zu langweilen. Der Zar hasst die Unabhängigkeit des Spindoctors. Dem Berater im Roman soll Wladislaw Jurjewitsch Surkow Modell gestanden haben.

„Der Manipulator. Wladislaw Surkow denkt sich im Kreml Parteien aus, bringt Redakteure auf Linie und verfolgt Oligarchen. Er hat sogar genug Macht, um seine Vergangenheit auszulöschen.“ Michael Ludwig am 04.12.2011 in: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, Quelle

Offizielle Trostlosigkeit

Am 8. und am 12. September 1999 explodierten Sprengsätze in Moskauer Wohnblöcken. Die Angriffe begründeten den II. Tschetschenienkrieg. Baranow erinnert krasse Szenen bei Putins Einschwörung seiner Soldaten an der kaukasischen Front. Der Beobachter beschreibt eine gegenseitige Initiation. Danach erst sei der damals neue Präsident vollkommen legitimiert gewesen.

Auch die Kursk-Katastrophe und Putins Vereitlung der Mannschaftsrettung kommen zur Sprache. Putin bekräftigte den Anspruch auf absolutistische Machtausübung mit der Verhaftung von Michail Chodorkowski am 25. Oktober 2003. Er degradierte die Ikone des neuen russischen Reichtums nach der stalinistischen Devise: Bestrafe einen und erziehe hundert. Er statuierte das Exempel als Spektakel (für die Massen) und Warnung (für die Oligarchen). 2007 demütigte er (die sich vor Hunden ängstigende) Angela Merkel mit seiner Labradorhündin Koni. Das hatte Methode. Der Gastgeber handelte im Geist des „Tscheka“-Terrorstils.

„Tscheka“ steht für „Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“. Gegründet wurde dieser Staatssicherheitsdienst 1917. Es ging den Tschekist:innen nicht nur darum, Geständnisse zu erpressen, die Geständnisse mussten auch unterschrieben werden. Die Signatur unter einer druckvoll zustande gekommenen Zugabe nicht begangener Verbrechen wirkt wie ein Manie.

„Putins wirksamstes Regierungsinstrument ist die Furcht. Wenn er Angela Merkel in Moskau bei sich empfing, ließ er sie stets von seiner riesigen schwarzen Labradorhündin Koni beschnuppern, die ihren Namen als Hommage an die frühere amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice tragen soll.“ „Hund und Herr: Was Putin an Koni schätzt“, von Kerstin Holm am 18.10.2010 in der FAZ, Quelle

Baranow erklärt Koni zur Anführerin einer Schattenarmee. Sie rekrutiert sich aus sowjetisch sozialisierten Ex-KGB-Gewaltpädagog:innen und nerdigen Hacker:innen. Die Avantgarde hybrider Kriegsführung heizt dem Westen ein, der in sträflicher Ahnungslosigkeit nicht weiß, wie ihm geschieht.

Putin konsultiert seinen Berater auch in Zonen vorsätzlicher Trostlosigkeit. „Falsche Behaglichkeit und echte Geschmacklosigkeit“ paaren sich da mit der verschwörerischen Vertraulichkeit unter Leuten, die über dem Gesetz stehen. Über sich selbst schrecklich hinausgewachsen bleiben sie in ihrer Hypertrophie doch nur Putins Puppen.

Der russische Winter ist ein effektiver Wärter staatlicher Souveränität. Beinah überall in Putins Riesenreich bietet er ideale Voraussetzungen für Olympische Winterspiele. Der Zar landet seinen drittgrößten zivilen Coup mit der Durchsetzung der Entscheidung, die Olympischen Winterspiele 2014 in der Schwarzmeerstadt Sotschi an der Russischen Riviera auszutragen. Nie zuvor fanden Winterspiele in einer subtropischen Region statt. Fachleute beklagen eine gigantisch dimensionierte Korruption. Gian-Franco Kasper, Präsident des Internationalen Skiverbandes, vermutet „dass rund ein Drittel des Rekordbudgets von rund 51 Milliarden Dollar für die Spiele und die damit in Zusammenhang stehenden Infrastrukturmaßnahmen in korrupte Geschäfte geflossen ist.“ „Sotschi 2014: Olympischer Kannibalismus“, 14.01.2014, Quelle

Aus der Ankündigung

In Frankreich der #1 Bestseller und vielfach ausgezeichnet: Ein Ereignis ist «Der Magier im Kreml» von Giuliano da Empoli, ein auf realen Personen und wahren Begebenheiten basierender Roman, der für Furore gesorgt hat: die Beichte Wadim Baranows, des fiktiven, einflussreichsten Beraters Putins, und die Innenansicht eines immer tödlicheren Machtzentrums, abgründig, erhellend und brillant geschrieben.
Man nennt ihn den «Magier im Kreml». Der rätselhafte Vadim Baranow war Regisseur und Produzent von Reality-TV-Shows, bevor er zur grauen Eminenz von Putin wird. Nachdem er als politischer Berater von der Bühne verschwindet, werden immer mehr Legenden über ihn verbreitet. Bis er eines Nachts dem Ich-Erzähler dieses Buches, der seit Langem in Moskauer Archiven forscht, seine Geschichte anvertraut …
Dieser Roman führt uns ins Zentrum der russischen Macht, wo permanent Intrigen gesponnen werden. Und wo Vadim, der zum wichtigsten Spindoktor des Regimes geworden ist, ein ganzes Land in ein politisches Theater verwandelt, in dem es keine andere Realität als die Erfüllung der Wünsche des Präsidenten gibt. Doch Vadim ist kein gewöhnlicher Ehrgeizling: Der Regisseur, der sich unter die Wölfe verirrt hat, gerät immer tiefer in die Machenschaften des Systems, das er selbst mit aufgebaut hat, und wird alles daransetzen, um dort wieder herauszukommen. Er nimmt den Erzähler mit auf eine Reise ins Herz der Finsternis. «Der Magier im Kreml» ist ein großer Roman über das zeitgenössische Russland und die Entstehung seiner medial inszenierten und vollkommen fiktiven, aber auch tödlichen Realität, einem Imperium der Lüge. Er enthüllt nicht nur die Hintergründe der Putin-Ära, sondern bietet auch eine hellsichtige Betrachtung über die Macht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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