Hanna - Die Geschichte einer verpassten Beziehung

#TexasText/Jamal Tuschick Mich interessiert Geschichte mehr als Psychologie. Ich habe keinen Tiefgang und komme mit wenigen Erklärungen aus.

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Hanna - Die Geschichte einer verpassten Beziehung

Ich habe Hanna eine Finanzspritze unter der Hand versprochen. Noch nicht einmal ihr Mann soll davon erfahren. Hanna spielte die Hauptrolle in einem Kurzfilm meines Lebens. Uns verbinden ein paar Fuldaer, Frankfurter und Offenbacher Diskonächte vor langer Zeit. Hanna suggeriert mir unterschwellig ihre Bereitschaft zur Wiederaufnahme der intimen Beziehung. Meine Ablehnung der Angebote ist nicht immer gleich überzeugend. Es steckt ein Stachel des Begehrens in meinem Fleisch, auch da, wo Instinkt und Vernunft mir einvernehmlich Einhalt gebieten. Zu meiner unternehmerischen Kernkompetenz rechne ich den kühlen Kopf gegenüber verführerischen Arbeiterinnen.

Hanna ist Produktionshelferin im Zauberkasten. Ich hole die vereinbarte Summe aus dem Tresor. Fünftausend Euro. Das gute Gefühl, Geld in der Hand zu halten, durchkreuzt ein Auftritt meines Bruders. Levan schwebt auf einer Medikamentenwolke und hält nur pro forma inne auf dem Weg zu unserem Akquise-Genie Morgan Freilich. (Zu Morgan bald mehr.) Ich lasse die Gelegenheit für eine kritische Bemerkung zu seiner Krawatte verstreichen. Vermutlich käme sie eh nicht an.

Auf dem Weg zu Hanna stelle ich mir vor, wie es wäre, in Kraichhain so zu stranden wie Sean Penn als Bobby Cooper in U-Turn. Du kommst als Fremder in ein Kaff und da findet jeder einen Grund, dir sein ausgelutschtes Misstrauen zu präsentieren, dich an einer Knarre schnuppern zu lassen und dir zumindest die Zeit zu stehlen. Zum Schluss drehst du am Rad und vermutest hinter jeder Ecke ein Übel.

Kraichhain ist bestimmt keine touristische Offenbarung. „Idyllisch herb“ trifft des Nagels Kopf. Ich weiß nicht mehr, wo ich diese Beschreibung aufgeschnappt habe, aber sie passt zu dem flüchtigen Blick im Vorübergehen. Kraichhain hat ein paar Pensionen für den Urlauber ohne besonderen Anspruch. Urlaub in der Heimat als Alternative zu Ferien auf dem Balkon.

Man schickt die Genügsamen zu bröckelnden Resten einer Mauer, die an der nördlichen Stadtgrenze einst einen Geländesporn befriedete. Vor dreitausend Jahren könnte die Spornspitze Tag und Nacht bemannt gewesen sein. In einem Schacht an der Mauer fand man Knochen und Flintspitzen. In der Eisenzeit verschanzten sich die Leute auf dem Ochsenkopf in einem Ringwall. Eine von Muschelkalk überdachte Basalt- und Tuffsteinformation gibt dem Areal seinen Charakter. Das trutzige Relief bietet sich als Fotomotiv an. An einer anderen Stelle hätte es gewiss magnetische Wirkung auf ein großes Publikum.

Mich interessiert Geschichte mehr als Psychologie. Ich habe keinen Tiefgang und komme mit wenigen Erklärungen aus. Romane sprechen mich nicht an. Die meisten Bücher, die zu lesen ich vermieden habe, wirkten auf mich wie Maulwurfhügel im Vergleich mit Filmen. Kino ist ein Himalaya der Information. Ich glaube, dass in jeder gelungenen Unterhaltung ein starker Vermittlungswille steckt. Autoren sind zu egomanisch, um sich in einem Zusammenschluss zu verbessern. Mich interessieren Industrien mit der Potenz, Einzelleistungen zu bündeln und die Gaben kleiner Genies in einen großen Topf zu werfen.

Motown, Holly- und Bollywood schaffen gigantische Projektionsgebiete menschlicher Sehnsüchte. Der Starkult liefert magische Erscheinungen in 3D, die wiederum magische Erscheinungen in viel mehr Dimensionen auslösen. Das ruft an und ab, was von Märchen und Mythen in Cinderella und in sämtlichen Sandalen-Western übriggeblieben ist. Für mich verlängert Hollywood den Himmel der Antike. Mir gefällt die Vorstellung, dass es da Abteilungen gibt, die nur damit beschäftigt sind, das kollektive Unbewusste auszuforschen und die Essenzen der in Jahrtausenden nicht widerrufenen Hauptthemen der Menschheit auszuschlachten.

Ich sehe einen Langzeitarbeitslosen, der es auch mal im Zauberkasten versucht hat. Untüchtige seines Schlages setzen ihre Arbeitskraft mit ihrem menschlichen Wert gleich und müssen deshalb gegen ihre Geringwertigkeit ständig ankämpfen. Der Kampf verlangt ihnen alles ab. Sie suchen einen Ausgleich in merkwürdigen Vergleichen und Behauptungen. Lange war die Bahnhofsgaststätte ihr Treffpunkt. Da gingen Tagelöhner Saisonarbeitsverhältnisse mit Bauern ein. Das rustikale Kneipendekor dient nun der Galerie Gerster als Kulisse.

Entzündete Existenzzahnhälse

Ich überreiche das Geld zur Begrüßung wie ein Bote. Hanna drückt mich an ihren wispernden Busen. Die Luft brennt. Hanna wohnt mit Tochter Katinka, Hund Leo und Gatte Clemens zur Miete in einer Bausünde an der Bahnhofsstraße. Die Familie ist in Kraichhain so aufgeschlagen, als wäre in Berlin kein Platz mehr gewesen. Sie hat nichts mitgebracht, was vor Ort zählt. Hanna fühlt sich trotz entzündeter Existenzzahnhälse großstädtisch überlegen. Das fasziniert mich. Die Dreißigjährige ist an einer Karriere als Ballerina vorbeigeschrammt. Der Körper verweigerte die Tortur. Seine Waffe war der Schmerz. Er zwang Hanna zur Aufgabe.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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