Heinrich von Kleist/Jamal Tuschick - Teufelskerl mit Manieren

#TexasText/Jamal Tuschick Juliettas Vater ergibt sich nur deshalb nicht, weil er den russischen Eroberern den Großmut des Pardons nicht zutraut ...

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„Die chinesischen Sicherheitsdienste ... achten sehr auf das Bild Chinas im Ausland ... Ein Baustein ist ... die Literatur. Und die russische Propaganda ist ... stark von den literaturwissenschaftlichen Theorien des Poststrukturalismus beeinflusst, die mehr oder weniger besagen, dass Wirklichkeit hergestellt wird, unter anderem von Literatur.“ Benedikt Franke, zitiert aus der Süddeutschen Zeitung vom 4. April 2024. Nicolas Freund zitiert Franke in seinem Artikel „Sicherheitspolitik und Literatur: Das Kriegsorakel“, Quelle

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"sobald in unserer calle geschossen wird, kriechen wir auf dem boden in den hinteren teil des hauses und sehen dort weiter fern, man gewöhnt sich an vieles." Flaco

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Teufelskerl mit Manieren

Den an einen äußeren Rand der Entscheidungsfreiheit gedrängten Kommandanten der angegriffenen Zitadelle (siehe Verschonter Palastflügel) treibt keine Hoffnung mehr an. Juliettas Vater ergibt sich nur deshalb nicht, weil er den Eroberern den Großmut des Pardons nicht zutraut. Mit „sinkenden Kräften“ zieht er sich auf eine letzte Linie zurück. Nun tritt der Russe, von dem wir schon so viel gehört haben, vom Kampfgeist glühend, vor seine Leute und fordert den ollen Oberst zur Kapitulation auf. Herr von … wirft sich dem Sieger wie einem Bräutigam in die Arme. „Auf diese Aufforderung (habe) nur gewartet habe, seufzt er und entledigt sich seines Degens. Der glücklose Militär kehrt den Familienvater heraus. Er wolle sich bloß ins Schloss zurückziehen dürfen, um sich ganz „seiner Familie“ zu widmen.

Wer auch immer G. zum Kommandanten der Zitadelle bestimmte, verdient eine Degradierung zum Stiefelknecht. Der erfolgreiche Stürmer und Dränger zeigt viel Verständnis, kommt ihm doch das milde Wesen des Unterlegenen zupass. Er stellt G. eine Wache zur Seite und lässt ihn wegtreten. Sodann eilt er wieder „an die Spitze eines Detachements“ (und entscheidet), wo er noch zweifelhaft sein mag, den Kampf“. Er befiehlt das Löschen der Brände, sich selbst zum ersten Feuerwehrmann machend.

Er leistet „Wunder der Anstrengung“, riskiert sein Leben für die Loser:innen. Er hantiert mit dem Schlauch wie vorher mit dem Degen.

Das ist keine Kleinigkeit. Bedenken Sie wenigstens die Arsenale voller Schießpulver und Bomben. Explosionsgefahr liegt in der Luft. Kleist registriert ein „Schaudern der Asiaten“, und verweist so implizit auf eine gefühlte Fortsetzung der Hunnen- und Mongolenstürme. Das Grauen und der Reflexbogen kommen aus den altaischen Steppen. Das Unbewusste legt dienstfertig ein Angstformular vor. Setzen Sie nur noch ihren Namen ein, das Geburtsdatum und die Rufnummer.

Soweit es unsere Heldin betrifft, ist die Rede von einem „Unfall“. Die Marquise wusste sich längst wieder zu berappeln. Wir sehen eine kräftige Person, die Wert darauflegt, ohne „Beihülfe“ (Originalschreibweise) wieder auf die Beine zu kommen.

Kleist versieht den Moment mit einem narrativen Asterisk, indem er die Vorausschau des russischen Offiziers hervorhebt. Der Usurpator antizipierte das kurzweilige Element der Unpässlichkeit. Woher wollte er das gewusst haben? Müssen wir dem Haudegen prophetische Fähigkeiten zubilligen.

Julietta brennt darauf, dem „Retter ihre Dankbarkeit zu bezeugen. Sie wusste schon, daß er der Graf F..., Obristlieutenant vom t...n Jägerkorps, und Ritter eines Verdienst- und mehrerer anderen Orden war“.

Er soll sich ihr zeigen, dieser Teufelskerl mit Manieren. Der zum Bittsteller heruntergekommene Vater macht sich zum Boten. Er findet den Grafen „auf den Wällen, wo er eben die zerschossenen Rotten (revidiert)“. Der Großartige verspricht, bei erster Gelegenheit nach Juiletta zu sehen. Doch reißen ihn die Ereignisse immer wieder „in das Gewühl des Krieges“ zurück. Jetzt reitet der Oberbefehlshaber ins Spiel. Vielleicht ist es ihm auf seinem Feldherrenhügel zu langweilig geworden. Mit G. tauscht er Floskeln. Er bedauert, „dass das Glück (G’s) Mut nicht besser unterstützt (habe) und erlöst den sympathischen Verlierer von allen Einschränkungen, sieht man vom Rückkampfrecht ab.

Mir fehlt an dieser Stelle der lange Atem. Ich will nur sagen, dass es der Graf versäumt, die Namen jener preiszugeben, die sich Julietta auf verbotene Weise genähert hatten. Das Manöver erscheint als Mysterium. Die Frevler werden trotzdem gefasst und vor ihrer Erschießung kaum zur Rede gestellt. Der formidable Graf bleibt eingespannt und versäumt es schließlich, sich von Julietta zu verabschieden. „Und in weniger als einer Stunde“, schreibt Kleist, „war das ganze Fort von Russen wieder leer“.

Die Erzählung hält das Tempo der abrückenden Truppen. Julietta und ihre Familie bedauern die Ausdruckslosigkeit ihres Danks zutiefst. Nach den Begriffen der Zeit vermochte der schneidige Graf mit seiner Intervention beinah mehr als eine Lebensrettung; wiegt doch die Ehre einer Frau ihr Leben wenigstens auf. Das Lamento der versäumten Gelegenheit steigert sich zum Crescendo der Verzweiflung. Der Ritter fiel noch am „Tage seines Aufbruchs aus dem Fort“.

An seinem finalen Ausscheiden besteht kein Zweifel. Der Kunde Bote sah „mit eignen Augen (wie der Graf) tödlich durch die Brust geschossen (wurde)“. Er wusste sogar die letzten Worte des aus dem Sattel Gefeuerten:

„Julietta! Diese Kugel rächt dich!“

Unsere Marquise vergeht vor Kram. Wir sehen eine blühende Witwe, geknechtet von Konventionen, gezwungen zum Trübsal, brutal der Hoffnung beraubt, der resche Russe, ein Mann mit Manieren, Meriten und Moos, könne sie ihrem unfrohen Stand im Galopp entreißen. Und wieder schlägt das Unglück zu, gerade so, als verfolge es Julietta mit persönlichen Absichten. Morgen mehr.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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