Jamal Tuschick - Abergläubische Aufklärung

#TexasText/Jamal Tuschick Hätte man einem klassischen Griechen den Divinationsbetrieb rund um das Orakel von Delphi als schnöden Gelderwerb einer Kaste erklärt, wäre ihm die Aufklärung abergläubisch vorgekommen.

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Abergläubische Aufklärung

Die Quelle der Salm tritt in der Rhön aus. Sie führt den überirdischen Kreisläufen Wasser aus einem Magma-Reservoir zu. Eine Vorstellung von reinem Wasser überschwemmt mich. Unter der Oberfläche macht die Erdgeschichte weiter Fortschritte im Schleudergang. Sie bleibt glühend schwarz und vulkanisch eruptiv.

Das Boot liegt federleicht auf dem Wasser. Der Fluss nimmt es einfach mit. Seine Kräfte wirken konzentriert in eine Richtung. Ich spüre keinen abweichenden Zug. Ein Regenbogen zeichnet sein Tor. Bartmäuler streben zu tanzenden Kongressen. So losgelassen empfinde ich das All-Einsein.

Wir sind Fleisch gewordenes Universum. Wir sind All-Bewusstsein. Bewusstsein ist nichts Individuelles. Die Menschheit ist eine Bewusstseinsbatterie. Bewusstsein - Energie - Information. Sehnt sich der Mensch nach Gott, zeigt er sich der Schöpfung gewachsen. Wir sind das Göttliche. Viele schließen die magische Welt für sich aus, weil ihre Erscheinungen ihnen zu spekulativ sind. Sie schotten sich vor inneren Ansprachen ab. Sie legen ihr präkognitives Potenzial auf Eis und ignorieren ihre Intuition. Hörte ein Grieche der Antike innere Stimmen, vernahm er den Rat der Götter. Er fühlte sich ausgezeichnet. Er war nicht allein im Universum - verloren im Nichts. Hätte man einem klassischen Griechen den Divinationsbetrieb rund um das Orakel von Delphi als schnöden Gelderwerb einer Kaste erklärt, wäre ihm die Aufklärung abergläubisch vorgekommen. Sein Platz in der Welt stand fest. Er war die Krone der Schöpfung. Die Einsicht bleibt im Kopfdickicht hängen wie das Treibgut im Ufergestrüpp. Pflanzennester schwappen in schwacher Dünung. Um es mit den Worten unserer Tourismus-Beauftragten Nina Gerster zu sagen: Der Fluss passiert das Eberhaupt im Hohen Ried, ertüchtigt sich im Sauwald, grüßt bei Lüdersbach die Klopfmühle und beim Hochberg die Sterntalermühle mit behutsamen Aufwallungen.

Ein singulärer Basaltbrocken trägt die Hochburg. Entlang ihrer Kriechgänge und vorgelagerten Schanzen verliefen Grenzen. Da endete einst das Christentum. An der Wildemann Mühle erreicht die Salm beinah Kraichhain. Sie streift die Klingenbacher Aue und bricht aus der Wildemann Schlucht in die Werra. Neandertaler brachten in den Werra-Auen Mammuts zur Strecke. Die Werra war damals so breit wie der Amazonas.

Eingesessene könnten Touristen Artefakte aus der Karolinger Zeit zeigen, sie zu einem Hügelgrab oder auf den Krimmer Trutz führen. Der historische Gemeindekern überformt ein paläolithisches Camp. Werkzeug, das vor 150.000 Jahren zum Einsatz kam, wurde hier gefunden. Die Gegend um Kraichhain ruht in sich. Ihre Gleichmäßigkeit geht über eine gleichmäßige Natur und ihre beschauliche landwirtschaftliche Nutzung hinaus. Auch die Gemeinden gleichen sich, so als schriebe die Gegend ihnen einen Verwaltungsschlüssel und den Einheimischen eine Daseinsform vor. Alles scheint einer Größenordnung unterworfen.

Der Geruch von gemähtem Gras erinnert mich an glühende Stunden vor Jahrzehnten im Flussbad.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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