Jamal Tuschick - Die Wahl zwischen Abstand und Tod

#TexasText/Jamal Tuschick Kleine Gruppen, flache Hierarchien, kaum Privateigentum, große Reviere: Zwei bis acht Verwandte waren mit stärkeren Verbänden fortpflanzungstechnisch verbunden. Gemeinsam sprang man in den Genpool.

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„Der Konkurrenzkampf der kulturellen Evolution drängt uns zu Werten, die in der jeweiligen Phase der Energiegewinnung am besten funktionieren.“ Ian Morris

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Die Wahl zwischen Abstand und Tod

Das Habsburger Reich erwehrte sich der Pest erfolgreich mit einer Befestigung seiner Außengrenzen: einer Sperrzone von Kroatien bis Moldawien. Das Osmanische Reich stellte es mit militärischen Mitteln unter Quarantäne.

„Auf der türkischen Seite des Balkans wütetet die Pest noch bis 1840, auf der österreichischen ward sie nie mehr gesehen“.

Das referierte der Archäologe Ian Morris 2020 unter der Überschrift Covid 19 - Antworten aus der Vergangenheit. Bis zum Zeitalter der Impfungen war die Quarantäne der Hauptseuchenschutz. Morris stellte fest, dass uns Covid 19 so lange auf den Stand der Habsburger zurückwerfen würde, bis wir als Wirte nicht mehr wehrlos wären. Im Augenblick der Feststellung hatten wir „die Wahl zwischen Abstand und Tod“. So voreilig das Fazit erschien, Morris sah zugleich ein neues Zeitalter auf uns zu kommen, in dem westliche Demokratien ins Hintertreffen geraten würden. Der Wissenschaftler heftete seinen Ausblick an zwei historische Marken. Erstens waren wir vermutlich lange gleicher als wir uns das heute vorstellen können, nämlich bis vor zwölftausend Jahren. Dieser Egalität näherten wir uns dann im globalen Norden noch einmal im Zuge der Nutzung fossiler Brennstoffe seit zweiundfünfzig Jahren. Bekanntlich verlieren die einschlägigen Egalisierungsimpulse ihre Legitimität.

Zitate aus „Corona und wir - Denkanstöße für eine veränderte Welt“

Menschliche Werte haben biologische Wurzeln. Sie sind Anpassungsprodukte. Sie stehen in einem funktionalen Zusammenhang mit evolutionären Anforderungen. Morris unterscheidet drei Generallinien unserer Entwicklung: Freibeuter - Bauern - Nutzer fossiler Brennstoffe.

Er sieht jede Lebensform in Abhängigkeit von der gerade legitimen Energiegewinnung. Mich erinnert das an eine Bemerkung von Paul B. Preciado. Der Philosoph sagt, die ersten Maschinen seien Sklaven gewesen. Aus ihrer Energie zogen archaisch-agrarische Gesellschaften jene Überschüsse, die den Bestand auf der Achse Energie - Kultur - Technik gewährleisteten.

Zitate aus Ian Morris, „Beute, Ernte, Öl. Wie Energiequellen Gesellschaften formen“

Die längste Zeit schweifte der Mensch aus. Er war so viel länger Wildbeuter, als er Nutzer fossiler Energie ist, dass in uns allen die Sehnsucht nach dem Wald schlummert. Vor zwanzigtausend Jahren waren wir noch ohne Ausnahme Jäger und Sammler. Die Wildbeuter der Gegenwart agieren nach einer Hauptmeinung der Anthropologen im sozialen Schatten der Fossilenergienutzer anschlusslos an prähistorische Vorgänger. Die akademischen Konjunktive grassieren. Morris hält Folgendes für schildfest. Der Aufenthaltsraum legt alternativlos den Bedarf fest. Der Kalorienverbrauch nimmt mit der Nähe zum Äquator ab. An den Polen ist er am höchsten. Zeit und Aufwand zur Energiegewinnung unterliegen der Rationalität.

Unser Anfang

Kleine Gruppen, flache Hierarchien, kaum Privateigentum, große Reviere: Zwei bis acht Verwandte waren mit stärkeren Verbänden fortpflanzungstechnisch verbunden. Gemeinsam sprang man in den Genpool.

Es gab Varianten im Schlaraffenlandspektrum. Reiche Jagdgründe begünstigten Sesshaftigkeit. Sesshaftigkeit begünstigte die Anhäufung immobilen Besitzes und den Aufbau von Hierarchien. Der stationär agierende Trapper nahm den Bauern vorweg.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

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