Jamal Tuschick - Dreifaltige Hölle

#TexasText/Jamal Tuschick Manche Frauen waren zuerst in Istanbul aufgeschlagen ... In den Verkleidungen der Assimilation waren sie heraufgebeten worden zu diesem zweifelhaften Friseurwissen, einem Vermutungswissen aus liegengebliebenen Zeitungen ...

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Dreifaltige Hölle

Opa schickte sich und seine Nächsten in die dreifaltige Hölle von Verleugnung, Verachtung und Verdrängung. Er trat jedem auf die Füße, der sie nicht schnell genug wegzog. Nachbarn überzog er mit Prozessen, schäumend vor Selbstgerechtigkeit. Er liebte juristische Winkelzüge. Seine Rechtshändel lenkten eine Neigung zur Tobsucht in geordnete Bahnen.

Der Kampf ging weiter, die Motoren des Krieges waren Aufstiegsmotoren. Opa hatte als türkischer Artillerist am Koreakrieg teilgenommen, auch das ist eine verschwiegene Geschichte, genauso wie die massenhafte Migration, sprich Autonomie von Türkinnen in den 1960er Jahren unter den Vorzeichen des Laizismus und Kemalismus. Ihre Freiheit feierten die Frauen auf einem Kontinent aus Arbeit in Übergangsheimen. Atatürk hatte die Türkei Europa entgegen gedreht, die Frauen war Patentöchter seiner Ideen. Die Religion war eine Dorfschuld, andere mochten sie im Geburtsland abtragen. Manche waren zuerst in Istanbul aufgeschlagen und auf diesem Umweg nach Deutschland gekommen. In den Verkleidungen der Assimilation waren sie heraufgebeten worden zu diesem zweifelhaften Friseurwissen, einem Vermutungswissen aus liegengebliebenen Zeitungen. Sie hatten noch nicht einmal eine Vermutung von sich. Alles, was sie annahmen, zersetzte sich in einem Säurebad widersprüchlicher Informationen. Sie klammerten sich an das Türkisch-sein, mit dem Gefühl, sogar ihren Atem kaufen zu müssen mit irgendeiner Kniefälligkeit. Es gab sie nur als Mägde. Und doch transferierte Istanbul Selbstbestimmungswissen auf ihr Konto. In Deutschland funktionierte das Programm noch besser. Die Ledigen in den Übergangsheimen bekochten sich wie Schwestern. Da war nichts Großes und selbst das Kleine war noch zu groß für jedes bekanntes Wort. Die Frauen beschwiegen ihr Erleben, wenn sie montagmorgens mit der letzten Kraft ihrer Jugend in die Fabrik einrückten und die Erschöpfungspausen auf dem Klo verlängerten. Bis wieder Freitag war, und sie sich mit von Gelegenheiten geschulten Männern trafen. In den betrügerischen Männerherzen war für besonders kein Platz. Keine Aussicht auf eine Ehe, aber das fistik kiz-Kapital, die Mädchenrendite, schon verbraucht. Schließlich reisten die Frauen zurück, die Sechzigerjahre als Schundroman im Koffer. Ein türkischer Mann musste her.

Opa hatte sich am Feldgeschütz von Herkunftsbeschränkungen emanzipiert. Informationen, die nur er beim Universum abrufen konnte, hatten ihn zu einem legendären Richtschützen gemacht und vor dem Tod bewahrt. Nun führten sie ihm dem Reichtum zu. Damit verband er den Brutalismus aus dem Donald-Duck-Kosmos. Opa wollte im Geld schwimmen.

Informationen aus dem Universum ließen ein Kind armer Leute am Wirtschaftswunder teilhaben. Opas Herkunftsfamiliengeschichte unterschied sich nicht grundsätzlich von den Lebensläufen anderer Arbeitsmigranten, die in der Spätzeit der Adenauerrestauration im Zuge der Anwerbeabkommen nach Westdeutschland gekommen waren. Aber der gelernte Schuhmacher war sofort eigene Wege gegangen. In einem unterbelichteten Winkel der Republik hatte Opa, direkt an der Zonengrenze, in einem Schuppen seine Holzabsatzproduktion gestartet.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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