Jamal Tuschick - Infernalische Entladungen

#TexasText/Jamal Tuschick Opa suhlte sich nicht im Dreck menschenverachtender Ideologien. Ohne nennenswerte Schulbildung informierte er sich sachlich über Land und Leute. Er zerlegte jeden, der das nicht zu verhindern wusste.

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Infernalische Entladungen

Der alte Zauberer verkörperte den absoluten Willen zur Macht. Er herrschte sogar da, wo es überhaupt nichts zu beherrschen gab. Notfalls ließ Opa die Bäume vor seinem Haus strammstehen. Er erfand sich Bedeutung. Stets nahm er sich den Platzhirsch vor und schoss sich auf ihn ein. Das war der Richtschütze in ihm.

Opa maß eins sechzig nach eigener Angabe. Er behauptete, sein Vorankommen in den türkischen Streitkräften sei von seiner geringen Größe behindert worden. Er sagte, Vorankommen und meinte das so: Wer nicht vorankommt, bleibt zurück. Sein Kommandeur habe kurze Soldaten als persönliche Beleidigung empfunden und in seinem Herrschaftsbereich nur geduldet. Ich zog die Behauptung nie in Zweifel. Schon deshalb nicht, weil ich von klein auf besser als jeder Kommandeur wusste, dass Großvater kein kleiner Mann war.

Opa war im Koreakrieg gewesen. Die Türkische Brigade (Türk Tugayı) assistierte den US-Streitkräften bei deren Unterstützung der südkoreanischen Armee Anfang der 1950er Jahre; allerdings noch nicht im Rahmen der NATO-Solidarität. Die Türkei wurde erst 1952 Mitglied des Bündnisses. Die unterschlagene Infanterieeinheit kämpfte unter der Flagge der Vereinten Nationen. Während der am 25. Januar 1951 gestarteten Operation Thunderbolt bezwangen türkische Soldaten in der Gegend von Kumyangjang-ni chinesische Kombattanten.

Opa war ein leidenschaftlicher Artillerist und tat gern mehr als nötig. Er demoralisierte den Feind mit Feuereifer. In diesem Fach galt er als Koryphäe. Man versicherte sich seines Zermürbungsgeschicks. An der Spitze eines persönlichen Feldzuges führte er Krieg bis zu seinem Tod 1986.

Opa wusste stets, wo der Chinese/Nordkoreaner angreift. Er befragte Landkarten mit wissenden Händen. Man nannte ihn - seiner unergründlichen, ins Naturheilkundliche reichenden Kompetenz wegen - Feldapotheker. Seine medialen Fähigkeiten isolierten ihn nicht. Es gab Offiziersesoterik, einen Hang zum Okkulten und jede Menge volkstümlichen Aberglauben.

Opa diente in der Flugabwehrartillerie. Er verwandte seinen Ehrgeiz darauf, die Flakartillerie auch gegen Infanterie effektiv in Stellung zu bringen. Er stellte Flugbahnberechnungen an, analysierte Schießübungen und systematisierte die Ergebnisse. Voller Leistungsstolz bereitete er der Demoralisierung des Feindes mit der Flak den Boden und fand dazu auch später nie einen kritischen Abstand.

Opa suhlte sich nicht im Dreck menschenverachtender Ideologien. Ohne nennenswerte Schulbildung informierte er sich sachlich über Land und Leute. Er zerlegte jeden, der das nicht zu verhindern wusste. Ich war Zeuge infernalischer Entladungen. Opa knickte Leute zu seinem Vergnügen und zur Kompensation eines Begehrens, dem er zu direkt nicht nachgeben wollte. Seine Bedenken waren zwar nicht christlich. Die Leidtragenden hörten trotzdem die Engel im Himmel singen, wenn Opa ihnen einen Einlauf verpasste.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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