Jamal Tuschick - Prisen der Zugehörigkeit

#TexasText/Jamal Tuschick Kein Name, der nicht Geschichte transportiert. Klingenbach ist ein Landschaftsbegriff und der Name einer Burg ...

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„Die Lunge schmerzte so angenehm, dass ich mir das Glück nicht mehr ohne Tabak vorstellen konnte.“ Aris Fioretos

Prisen der Zugehörigkeit

Wieder trifft mich die Einsicht, dass die allerengsten Beziehungen Einfallstore des Verrats sind. Ich muss mich vor denen am meisten schützen, denen ich am liebsten überhaupt nichts entgegensetzen möchte. Ich stelle den Wagen auf den Parkplatz vom Lüdersbacher Hof ab. Das Bewirtungsgeschäft ruht. Ich bin in diesem Lokal so gut wie daheim und bekäme meinen Cappuccino, notfalls auch koffeinfrei, jederzeit bei den Wirtsleuten im Wohnzimmer mit einem Keks serviert. Gern streiche ich die Prisen der Zugehörigkeit ein. Seit Vaters Tod erfüllt die Lüdersbacher Schlucht die Funktion des wissenden Zuhörers. Den Wald an den Hängen erlebe ich als Resonanzkörper meiner Gedanken. Ich stelle Fragen in den Raum und finde Antworten bei mir. So erging es mir manchmal in Gesprächen mit dem Vater. Ich unterbreitete ihm meine Ideen. Der wissende Zuhörer beschränkte sich oft auf stille Teilhabe und am Ende waren wir beide klüger.

Ursprünglich gab der Lüdersbach sein Wasser an die Werra ab. Er ist nur noch ein Zulauf des Hauptgrabens, der seinen quellenlosen Anfang als stehendes Gewässer in einer Wiese hat. Lüdersbach heißt auch der Ortsteil von Kraichhain auf dem Höhenzugsattel des Hahnenkamms. Die Schlucht führt zu dem wurzelechten Hochmoor in der Klingenbacher Aue. Das Moor wächst weiter und hat sein eigenes Klima. Seine Verluste sind Gewinne des Klingenbachs, der nach einer Verschwisterung mit der Schmalnau zur Werra entwässert.

Kein Name, der nicht Geschichte transportiert. Klingenbach ist ein Landschaftsbegriff und der Name einer Burg. Ein ruiniertes Kolossal des 12. Jahrhunderts und ein Tal, das die Werra in Schiefer schnitt, heißen so. Ich beobachte Uferschnepfen, Waldwasserläufer und Grauwürger auf einem Moosbeet voll Sonnentau und Schwarzer Krähenbeere. Jahrhunderte bot sich die Gegend zur Sichtung von Wildkatzen an. Im Mittelalter scheiterte der Versuch einer agrarischen Nutzung. Nichts deutet auf ältere Eingriffe hin.

Die Aue gibt einer Sehnsucht das Recht und die Ruhe, die Welt so zu erfahren, als sei sie neu. Eine pietistische Täuferbewegung nahm von hier ihren Weg nach Amerika. Die Leute nannten sich Tunker, daraus wurde Dunker. Ihren religiösen Betrieb halten sie in Pennsylvanien aufrecht.

Ein Fadenmolch zeigt sich. In der Natur ist mein Empfang des Universums am besten. Ich bemerke einen Holzmonarchen auf der Moorbrücke.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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