Jamal Tuschick - Tagtraumturbo

#TexasText/Jamal Tuschick An einer Ampel wartet Onkel Adem geduldig auf den Tod

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Vorbildliches Fahrverhalten

Der Erzähler erinnert sich an seine Jugend. In der Gegenwart des geschilderten Geschehens ist er vierzehn und cruist in der Limousine seines soeben verstorbenen Großvaters durch das Steinheim der frühen 1980er Jahre. An einer Ampel wartet Onkel Adem geduldig auf den Tod. Er wurde aus dem Familienbetrieb gedrängt und dann auch in seinem Elternhaus nicht mehr geduldet. Er hatte seinen eigenen Kopf und wagte den Widerspruch. Er lehnte sich gegen seinen Vater auf. Man nennt den Renegaten einen Versager. Das ist ein soziales Todesurteil. Sagt Babaanne (Vaters Mutter) von einem Verwandten, „dem mussten wir das Hochzeitsgeld vorschießen“, dient die Information einer Vernichtung. Ein mittelloser Hochzeiter wird es nie zu etwas bringen.

Der Onkel gilt so wenig wie ein Fremder. Wer fremd ist, wohnt auch so in einer umgebauten Scheune oder in einer Baracke. Den bewacht ein Schäferhund. Der wird morgens auf die Baustelle gefahren und abends vor der Barackentür abgesetzt. Er schließt sich am besten freiwillig ein. Sonntags sieht man ihn auf dem Bahnhof. Da ist er angekommen mit seinem Koffer.

Zwei Söhne des Firmengründers mussten ihre Basis aufgeben. Einer lebt nicht mehr. Monate vor seinem Tod wurde eine Lebensversicherung über eine halbe Million fällig. Der Onkel hob alles ab, ohne noch in der Lage zu sein, großartig Geld auszugeben. Dennoch fand man nach seinem Tod keine zweitausend Mark. Ich rechne fest damit, irgendwann auf das Vermögen zu stoßen wie auf einen Piratenschatz.

Der Steinheimer setzt vorläufige Schlusspunkte hinter jede Menge Geschichte. Ein überdachter Ausgrabungsabschnitt versagt als Publikumsmagnet. Ein hinter Glas gesetzter Abstich zeigt Schichtwechsel. Schwarze Streifen erzählen von Buschbränden. Beispiele für Feuersteinbearbeitung liegen vor. Die Illustrationen sind im „Was ist Was“-Stil gehalten. Die Grabungskonserve ist so was von trist. Hinter dem Rathaus vermoost der Brunnenstein. Das Brunnenhaus steht nicht mehr, aber eine überdachte Haltestelle gestattet es für möglich zu halten, im Brunnenhaus auf einen Bus in die Vergangenheit zu warten. In einer Broschüre des Fremdenverkehrsamts brilliert der Brunnenstein als „Keltischer Opferstein“. Die dramatisierende Umdeutung verdankt sich Bürgermeister Julius Gerster. Unbefangen oder weggetreten grüßt seine Nichte Sarah den Unternehmersohn im Daimler. Ich hoffe, Sarah in der Tanzstunde zu treffen. Mein Interesse an Mädchen erreicht schmerzhafte Ausmaße. Ich fürchte, in die Falle einer seltenen Krankheit getappt zu sein. Ständig muss ich mich zurückziehen, um nicht verrückt zu werden. Mein Fahrverhalten ist vorbildlich. Nichts hat sich mir so eingeprägt wie das Vokabular eines gewissenhaften Fahrzeugführers. Nichts regt mich so unmittelbar zur Nachahmung an. Opa trug am Steuer Handschuhe aus durchbrochenem Leder. Er hielt einen Vorrat interessant verpackter Fruchtbonbons in der Konsole. Die Kabine bewahrt den Rasierwassergeruch des alten Zauberers. Im Radio endet „Sledgehammer“. Das Lied fand Aufnahme in meine persönlichen Top Ten.

Die Spritztour bleibt unbemerkt. Ich tauche im Maschinenraum von „Aleko-Schuh“ ab.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

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