Jamal Tuschick - Thermoplastischer Kautschuk

#TexasText/Jamal Tuschick In den frühen 1990er Jahren liquidiert der Ostblock eine Industrie, die in erster Linie der Devisenbeschaffung gedient hatte

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Thermoplastischer Kautschuk

1990 übergab mir Vater das Handbuch der europäischen Schuhindustrie. Als Unternehmer war er zweimal eingebrochen. Er zog mich in die Verantwortung, als die europäische Schuhindustrie zum Schauplatz eines Massensterbens wurde. Wir erlebten einen Markt im Todeskampf. Unsere Partner in Osteuropa fielen reihenweise aus. Die planwirtschaftliche Vollbeschäftigung funktionierte von jetzt auf gleich nicht mehr.

So endete eine Erfolgsgeschichte. Mutter hatte in Opas Todesjahr den ersten Vertrag mit einem polnischen Staatsbetrieb abgeschlossen. Von da an belieferten wir einen Betrieb in der Oberschlesischen Industrieregion (polnisch Górnośląski Okręg Przemysłowy) mit thermoplastischem Kautschuk, der dem Kriegswaffenkontrollgesetz unterworfen war. Die Sache war so heikel, dass sogar der Ausschuss versiegelt in den Westen geschafft werden musste.

Unser Partnerbetrieb hatte die Ausmaße einer Stadt. Seine Versorgungszentren wurden während der Arbeitszeiten genutzt, bis 1992 36.000 Arbeiter auf einen Schlag entlassen wurden. In den frühen 1990er Jahren liquidiert der Ostblock eine Industrie, die in erster Linie der Devisenbeschaffung gedient hatte.

Wir bekamen von den Verwerfungen erst einmal nichts mit. Wir lieferten noch Material in ein Katastrophengebiet, als es da schon keinen Mann mehr zum Einlagern gab. Der thermoplastische Kautschuk wurde abgekippt und verrottete auf stillgelegtem Werksgelände.

Im Nachgang bewältigten 2500 Arbeiter im Pfälzer Wald das Pensum der 36.000 Kollektivisten. Keiner ging in seiner Arbeitszeit zum Friseur oder ließ sich auf Betriebskosten die Nägel machen oder umging die Engpässe einer Mangelwirtschaft im Kombinats-eigenen Supermarkt.

Der Fleiß nutzte nichts. Die Pfälzer verloren ihre Arbeitsplätze an Inder und Chinesen. Vor allem in Indien definierte man billig neu nach Grundsätzen von Sklavenhalter-Gesellschaften mit Kinder- und Heimarbeit ohne Arbeitsschutz und Sozialkosten. Ein Branchenriese bot mir die Verlegung von Aleko-Schuh nach Tamil Nadu an. Jede Menge europäische Markenhersteller lassen in dem indischen Bundesstaat produzieren.

Ich habe mir die Verhältnisse vor Ort angeguckt, die absolute Armut im Gestank von Gerbereien. Das ist nichts für mich. Ein Konkurrent ließ sich aufkaufen und als Geschäftsführer einsetzen. Der eingegliederte Betrieb ging in einer größeren Struktur auf und das mitgebrachte Wissen diffundierte in verschiedene Richtungen. Im Grunde war das eine Selbstenteignung.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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