Jamal Tuschick - Türkischer Mainstream

#TexasText/Jamal Tuschick Auf den Starschnitten der 1970er Jahre stehen alle Musiker auf massiven Sockelsohlen. Meine musikalische Sozialisation fand in den Achtzigern statt, doch meine Erinnerung an die vermiedene Pleite von Aleko-Schuh nach dem Sieg von Abba ...

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Türkischer Mainstream

„Wiewohl Fleisch und Blut das göttliche Wesen nicht ergreifen kann, sondern der Geist, wenn er von Gott erleuchtet und angezündet wird, so man aber will von Gott reden, was Gott sei, so muss man fleißig erwägen die Kräfte in der Natur, dazu die ganze Schöpfung, Himmel und Erden, sowohl Sternen und Elementa und die Kreaturen, so aus denselben sind herkommen, sowohl auch die heiligen Engel, Teufel und Menschen, auch Himmel und Hölle.“ Jacob Böhme (1575 - 1624), Schuster, Mystiker und Philosoph

Opa nahm göttliche Anrufe entgegen. Der alte Zauberer unternahm nichts ohne himmlische Rückversicherung. Die Wünschelrute verband ihn mit der Vorsehung. Gott war in seinem Leben gegenwärtiger als die Gattin (meine Babaanne). Gottvater kam gleich nach Großvater und unterstützte den Berserker.

Um das Bild einmal wieder scharfzustellen …

Ab und zu finde ich es angezeigt daran zu erinnern, dass ich keine Wirtschaftswundergeschichte erzähle, in der Nachkriegsdeutsche von jetzt auf gleich wieder obenauf waren. Opa kam aus der Türkei in diesen osthessischen Zipfel direkt an der Zonengrenze. Mit dem Gros türkischer Gastarbeiter verband ihn wenig. Er gehörte zur lasischen Minderheit und fühlte sich eher als Georgier, wenn auch auf eine substanzarme Weise. Das lasische Erbe war verschüttet und ungreifbar. Es existierte nur als leere Differenz. Die Andersartigkeit ergab sich vielleicht nur aus Trotz. Trotzdem war da was. Oma und Opa stammten aus einem Hotspot ihrer Minorität an der Schwarzmeerküste. Familiennamen, Bräuche, Rituale und Redensarten beatmeten die abweichende Tradition. Das war aber alles zu schwach im Verhältnis zum türkischen Mainstream, zu einem schäumenden Nationalismus und dem von Kemal Atatürk in einen kurzen Schlummer gewiegten Islam.

Jedenfalls setzte Opa in Deutschland nicht auf das Türkische, Lasische und Muslimische, sondern auf einen Kult, in dessen Zentrum er selbst stand. Er avancierte zum Hohepriester von eigenen Gnaden. Wäre das sein Limit gewesen, würde heute niemand mehr über ihn reden. Er hatte aber größere Spielräume. Opa erwarb eine Lizenz für die Produktion von Spannhülsen. Das war sein erster Coup und die erste unternehmerische Sternstunde im Zauberkasten. Er fuhr nach Pirmasens und holte Aufträge.

Solange es Frauen gefiel, auf hohen Absätzen zu balancieren, war der Hülsenmarkt ein Hort des Absatzes. Vaters erstes geschäftliches Waterloo vollzog sich zum Lied gleichen Namens. Abba gewann mit Waterloo den Grand Prix d’Eurovision 1974. Die Musiker trugen Schuhe mit Plateauabsätzen, die keine raffinierten Verstärkungen mehr brauchten. Sie lösten einen Trend aus, der die Spannhülse historisch werden ließ.

Auf den Starschnitten der 1970er Jahre stehen alle Musiker auf massiven Sockelsohlen. Meine musikalische Sozialisation fand in den Achtzigern statt, doch meine Erinnerung an die knapp vermiedene Pleite von Aleko-Schuh nach dem Sieg von Abba unterliegt einem Soundtrack, zu dem Gary Glitter, Alice Cooper, The Sweet, The Slade, T. Rex und Suzie Quatro Beiträge liefern. Nicht, dass mein Vater je Rockmusik gehört hätte. Er konterte den Plateauabsatz mit der vollwaschbaren Einlage und rettete so den Betrieb.

Die Einlagen nötigten Vater zur Erschließung neuer Absatzwege. Er meldete sich bei orthopädischen Schuhmachermeistern und besuchte Sanitätshäuser. Als Aleko-Schuh wieder einmal vor der Pleite stand, kam die Rettung von dort. Ein bayrischer Meister Eder, der gern alles anfasste und sich erklären ließ und seine Nase zwanghaft in Angelegenheiten anderer Leute steckte, versuchte meinen Vater für einen Gesundheitsschuhbodenkomponentenbau zu erwärmen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Handwerker hatte begriffen, dass viel Handarbeit bei der Herstellung eines Gesundheitsschuhs keine Meisterqualifikation braucht und folglich der Schuh in verkappter Weise zu teuer produziert wird.

Vater zeigte sich skeptisch, ihm waren die Margen zu gering. Aleko-Schuh war auf millionenfachen Ausstoß eingestellt, der Betrieb widerstand Umstellungen und Anpassungen im Kleinbereich. So wie man sich auf kein Dreirad mehr setzt, wenn man erst mal Fahrrad fahren kann.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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