Jamal Tuschick - Natürliche Hohlräume

#TexasText/Jamal Tuschick Das vorchristliche Konzept leitete sich von der Vorstellung ab, dass menschliche Selbstbehauptung auf dem Sockel eines Arrangements mit fordernden und gewährenden Jenseitskräften gelingt

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„Kein Wort steht still, sondern es rückt immer durch den Gebrauch von seinem anfänglichen Platz, eher hinab als hinauf, eher ins Schlechtere als ins Bessere, ins Engere als Weitere, und an der Wandelbarkeit des Wortes lässt sich die Wandelbarkeit der Begriffe erkennen.“ Goethe

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Natürliche Hohlräume

Adem hat sich in seinem eigenen Kaff verirrt. Jedenfalls fühlt er sich so in dem Internetcafé, dass ein ahnungsloser Inder in den Räumen eines einst gediegenen, bereits vor zwanzig Jahren in der siebten Generation erloschenen Tabakwarenfachgeschäfts (vormals Kolonialwaren) eröffnet hat. Seit den glorreichen Tagen der Zigarrendynastie Schwips fand vor Ort nur noch Murks statt. Das Scheitern in all seinen Facetten uferte aus und diente dem lehrreichen Klatsch. Trotzdem passt die Tapete noch zu den Vorhängen. Die floralen Motive haben einen nachgemachten Fin de Siècle-Stich. Nicht, dass Adem so etwas erkennen könnte.

Der Feuerlöscher klemmt als Fremdkörper auf einer verschrammten Täflung. Wie schnell sich die Dinge an einem vorbei entwickeln. Eben noch obenauf ist man im nächsten Augenblick schon abgehängt. Eine böse Vorahnung meldet sich bei Adem. Seit dem Niedergang des Warschauer Pakts wähnt er sich in der VUCA-Welt.

VUCA ist ein Akronym aus Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity.

Ursprünglich stand das Haus des Schwips'schen Händler-Stamms im östlichen Vorland. Da unterbrach die Werra einen Handelsweg von Nürnberg nach Leipzig. In K. führt die Nürnberger Straße zum Leipziger Tor. Nichts erinnert an einen Durchgang; nichts an geschäftliche Routinen, die bis nach Nürnberg reichten. Zur ersten Jahrtausendwende war das Markt- und Münzrecht von Fürth auf die salische, das heißt edelfränkische Krondomäne am Keuperfelsen übergegangen.

Über Nürnberg thront die Kaiserburg auf dem Keuperfels. Friedrich Barbarossa ließ das Wahrzeichen Nürnbergs errichten.

Kaiserliche Privilegien machten Nürnberg groß und brachten ein Geschlecht der Stadt ins Spiel der großen Politik. Die Zollern fingen um das Jahr 1190 als kaiserliche Hausmeister von Saliern und Staufern an, nach den Sternen des Reiches zu greifen. Als bis Kassel längst jede Blindschleiche vorgab, christlich zu sein, spuckten weiter im Osten Sachsen und Slawen noch auf das Kreuz. Vor dem Jahr Tausend unserer Zeitrechnung erreichten Händler eine slawische Siedlung in einem Lindenkreis, wenn sie nach Leipzig kamen. Die Fürsten der Gegend regierten mit Gewalt mehr als mit Überredung. Den Herrschaftsnutzen des Christengottes begriffen sie noch nicht. Das Christentum diente der Sicherung eroberter Gebiete. Es war ein Brechmittel im Einsatz gegen lokale Festungen. Jede sächsische Herzogstaufe verband sich mit Entwürdigungen, die im kollektiven Gedächtnis unter dem Schlüsselwort zu Kreuze kriechen abgespeichert sind. Auch dies variiert das Thema der transgenerationalen Weitergabe von Informationen. Man muss Erfahrungen nicht machen, um von ihnen geprägt zu werden.

Das vorchristliche Konzept leitete sich von der Vorstellung ab, dass menschliche Selbstbehauptung auf dem Sockel eines Arrangements mit fordernden und gewährenden Jenseitskräften gelingt. Es gab einen fabelhaften Himmel, der Verhandlungsspielräume mit den Göttern und Respekt vor den Göttern anderer Leute bot. Der monomane Alleinvertretungsanspruch des Christengottes gestattete keine Kompromisse. Deshalb verwahrten sich viele heimlich dagegen und blieben in Generationen Christen nur zum Schein. Sie zeigten sich an in Giebelritzungen der Suebenfaust, des Chattenzeichens und in harmlosen Darstellungen einer Wildkatze. Sie trafen sich in der Klingenbacher Aue. Die Götterminne hielten sie in Mulden, Nischen und anderen Hohlräumen ab.

Der Inder erscheint und deutet mimisch an, dass er zu beschäftigt ist, um sich anzuhören, was Adem zu sagen hat. Als Kunden nimmt er den arroganten Arsch nicht wahr. Seine Kunden sehen anders aus. Morgen mehr.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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