Nora Krug - Ausflug in den Frieden

#TexasText/Jamal Tuschick K. bringt ihre Kinder zu ihrer Mutter nach Kopenhagen. Für sie ist das nur ein Ausflug in den Frieden. Sie erfährt von den Massakern in Butscha und Irpin.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sehen Sie ferner https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4812

„Jahrzehntelang hat die Welt das revisionistische russische Narrativ geduldet, dadurch indirekt Russlands expansionistische Politik und genozidale Vorgehensweise unterstützt und damit das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine untergraben.“ Nora Krug

*

„Zwischen Ausnahmezustand und Alltag vergeht die Zeit und scheint doch stillzustehen.“ Daniel Schulz über den ukrainischen Kriegsalltag im Mai 2022

Ausflug in den Frieden

Am 24. Februar 2022 dynamisiert sich der Aufmarsch in Belgorod. Russische Truppen überqueren die ukrainische Staatsgrenze. Sie steuern Charkiw an. Nach dem Verlust von vier Panzern unterbrechen sie ihren Vorstoß. Die Verschnaufpause währt drei Tage. Wie müde Wanderer schlurfen die Soldaten schließlich in die Stadt. Sie wirken „weder wachsam noch kampfbereit“.

Das erzählt Sergej Gerassimow in seinem Kriegstagebuch „Feuerpanorama“.

Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine und ein Bildungsballungszentrum des Landes. Der Beschuss trifft eine russisch geprägte Bevölkerung. Die Russen attackieren Bürger:innen, „die größtenteils Russisch sprechen, auf Russisch denken und auf Russisch träumen“.

Nora Krug, „Im Krieg. Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg“, Visueller Journalismus, Penguin, 127 Seiten, 28,-

Schnell ändern sich die Routinen. Die Belagerten avancieren zügig zu Kenner:innen der Kriegsmaterie. Eben noch waren sie vollkommen zivil. Dieses Phänomen beschreibt auch eine Chronistin in den von Nora Krug illustrierten „Tagebüchern aus Kiew und St. Petersburg“.

„K. wurde (als Ukrainerin) zur Sowjetzeit in der Wolgaregion im Westen Russlands geboren.“ Mit dreizehn zog sie mit ihrer Mutter in die Ukraine. Später kehrte sie nach Russland zurück und machte da Karriere als Journalistin. Sie wurde zur Dissidentin und verlor ihre berufliche Basis. Um weiterschreiben zu können, ging K. in die Ukraine. Ab 2014 dokumentierte sie den Krieg im Donbass. Ihre Beiträge erschienen in ukrainischen und in kremlkritisch-russischen Medien. Seit dem Februar 2022 „berichtet sie von vorderster Front“.

Die das erste Kriegsjahr schildernden Aufzeichnungen der engagierten Ukrainerin korrespondieren mit den Notizen von D. Der Künstler wuchs in einer ländlichen Gegend der Sowjetunion auf. Mit zwanzig ging er nach St. Petersburg. Er identifiziert sich stärker mit dieser Stadt als mit Russland.

Was verbindet, was trennt die beiden Chronist:innen? Auch diese Frage erörtert Nora Krug in ihrem Vorwort. Doch schnell verschmelzen die beiden Diary-Stränge zu einer Erzählung von der Gewöhnung an das Grauen.

Den Kriegsausbruch quittiert K. so: „Zuallererst (nahm ich) ein Bad. Eine halbe Stunde saß ich einfach nur da.“

Bald zieht K. mit ihren beiden Kindern nach Lwiw. D. erlebt gleichzeitig „die schlimmsten Tage (seines Lebens)“. Auch er hat zwei Kinder. Auf der Stelle will er auswandern, während K. die Ukraine zwar nicht verlassen - wohl aber ihre Kinder in Sicherheit bringen will. In der dritten Kriegswoche notiert sie: „Es war ein Tag voller schrecklicher Ereignisse: getötete Kollegen, Interviews mit Menschen, die der Hölle entkommen sind.“

„Interviews mit zwei Zeugen und eine Analyse von 40 Videos und Fotos zeigen, dass die Submunition von Streumunitionsraketen des Typs 9M55K Smerch aus russischer Produktion stammt … ‚Charkiw wird von den russischen Streitkräften unerbittlich angegriffen, und die Zivilbevölkerung versteckt sich in Kellern, um den Explosionen und Trümmern zu entgehen‘, sagte Steve Goose, Direktor der Abteilung für Waffen bei Human Rights Watch.“ Aus „Ukraine: Streumunition auf Wohngebiete in Kharkiv abgefeuert“, Human Rights Watch, Quelle

K. bringt ihre Kinder zu ihrer Mutter nach Kopenhagen. Für sie ist das nur ein Ausflug in den Frieden. Sie erfährt von den Massakern in Butscha und Irpin. In Mariupol bombardiert die russische Luftwaffe auch eine Geburtsklinik und ein Kinderkrankenhaus. Bis zum 8. März haben bereits 600.000 Menschen Charkiw verlassen. Die Zivilbevölkerung muss mit Versorgungsengpässen an allen Alltagsfronten fertig werden. Die Leute drohen in ihren ausgekühlten, nicht selten von Sprengkörpern beschädigten Wohnungen zu erfrieren.

Wolnowacha wird in Schutt und Asche gelegt. Lassen sich Städte nicht einfach einnehmen, gehen die Usurpatoren zur kontaktlosen Kriegsführung über. Sie schießen aus sicherer Entfernung alles zusammen, bis die Trümmerfelder so unbewohnbar sind wie der Mond.

D. lebt in ständiger Angst vor dem russischen Repressionsapparat. Er erinnert sich an seinen euphorischen Aufbruch Anfang der 1990er Jahre.

„Damals habe ich mich in die Freiheit verliebt.“

D. fährt an die finnische Grenze. Ihm wird die Einreise verweigert. Das nächste Diasporaziel ist Riga. Eine sowjetische Kindheit hilft D., den Putinismus auf deutliche Begriffe zu bringen. Es geht um eine imperialistische Agenda.

In ihrem Essay „Die Erschaffung des Homo post-sovieticus: Putins Ingenieure der Seele“ beleuchtet Françoise Thom die Folgen einer Entfesselung des sowjetischen Propagandaapparats nach dessen Befreiung vom kommunistischen Ballast. Die Historikerin spricht von einer „Umerziehung (der postsowjetischen Bevölkerung) zum Schlechteren“. Die Herrschaftssprache sei längst „losgelöst von jeglichem Anspruch auf Wahrheit“. Die Eliten überböten sich in menschenverachtenden Einlassungen.

K. filmt Überlebende der russischen Besatzung. Sie dokumentiert eine unfassbare Not. Obwohl der Krieg sie viel unmittelbarer trifft als D., erscheint sie vitaler als der Co-Chronist. Von Grund auf deprimiert irrt D. durch das Labyrinth einer kafkaesk-grauenhaften Entfremdung von allem, was ihm einst in Russland teuer war. Auch er reagiert explizit auf die Gräuel von Butscha.

„In meinem Kopf herrscht kognitive Dissonanz.“

D. gelingt die Übersiedlung nach Riga. Besucht er die alte Heimat, findet er die Leute „fröhlich und sorglos“. Während sie keine Sommerfreuden entbehren, verrichten in der Ukraine die Bauern ihre Feldarbeit in Feuerpausen. Der mit keinem Wort treffend beschriebene Gegensatz zieht sich wie ein Riss durch die Aufzeichnungen. D.s Anteilnahme am Schicksal der geschundenen Ukrainer ändert nichts an der Differenz zwischen gelebter Apokalypse und der Niedergeschlagenheit eines eben auch innerlich Emigrierten, dem die alltäglichen Verrichtungen zu schierem Glück verhelfen, wenn sie denn nur in St. Petersburg stattfinden.

D. fürchtet, einberufen zu werden.

*

Sieben Monate nach Kriegsbeginn erfolgt der erste große Austausch von Kriegsgefangenen. 215 Ukrainer, darunter Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol, erlangen die Freiheit zurück. Einige sind von der Folter gezeichnet. Der ukrainische Geheimdienstchef Kyrylo Budanow bestätigt einschlägige Vorwürfe. K. notiert die bedrückenden Begleiterscheinungen eines historischen Vorgangs.

K. hat einen enormen Radius. Sie reist mehr und weiter als je in Friedenszeiten. Facebook meidet sie wegen der vielen Hassbotschaften. Ihr Twitter-Account wird mit einem Ghostban blockiert.

Sie dokumentiert die Befreiung Chersons. Die geschundene Bevölkerung kämpft mit den Folgen einer neunmonatigen Belagerung.

Sie reist in die Türkei und stößt da - in einer spannungsgeladenen Atmosphäre - auf Russen in ihrem Hotel. Zur gleichen Zeit hält sich auch D. in Istanbul auf. Er steht förmlich neben sich. Seine Welt ist untergegangen. Er will sich in einem Wald verkriechen, landet aber in Paris.

D. memoriert gemeinsame Erfahrungen der Russen und Ukrainer in der postsowjetischen Ära. Für viele Ex-Sowjetbürger:innen war das letzte Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende vielleicht sogar schwerer als die unmittelbare Nachkriegszeit. Es wurde gestorben „wie in einem offenen Krieg“.

„Man schätzt, dass allein in Russland zwischen 1989 und 1995 1,3 bis 1,7 Millionen Menschen vorzeitig starben.“ Vor allem Menschen mittleren Alters erlagen „psychischem Stress“ in Prozessen, die das Überkommene finalisierten. Zitate aus Ivan Krastev/Stephen Holmes, „Das Licht, das erlosch“

Putin erlebte den Untergang der Sowjetunion als nationales Desaster. Der Aufbruch von 1989 war für den gelernten KGB-Agenten eine Niederlage im Kalten Krieg. Die Konditionen der postkommunistischen Frühphase beschreibt Putin mit Schlüsselbegriffen aus dem revanchistischen Diktatfrieden-Vokabular militanter Kritiker des Vertrags von Versailles. Sein Geschichtsrevisionismus macht Putin zum großen Gegenerzähler. Die westliche Perspektive auf die Entzauberung des Warschauer Pakts geht von einer historischen Konsequenz aus, die Putin wie ein Kaugummi in die Länge zieht. In der Verlängerung triumphieren die aus Schaden klug gewordenen Verlierer über die 89er-Sieger.

Aus der Ankündigung

Einzigartiger visueller Journalismus: die Alltagserfahrungen einer ukrainischen Journalistin und eines russischen Künstlers im Ukrainekrieg - gegenübergestellt und farbig illustriert von Nora Krug, der preisgekrönten Autorin von »Heimat«

Eine ukrainische Journalistin und ein russischer Künstler, ein Jahr lang begleitet von einer deutsch-amerikanischen Illustratorin. Zwei Leben im Krieg, zwei Tagebücher über 52 Wochen, ein Buch voller Hoffnung auf Frieden.

Wenige Tage nach der russischen Invasion der Ukraine hat Nora Krug Kontakt aufgenommen zu zwei Menschen in Kiew und Sankt Petersburg, die ihr in wöchentlichen Gesprächen berichten, was der Krieg für sie bedeutet. Wie sie mit ihren Kindern darüber sprechen, mit Freunden und Fremden, ob sie arbeiten können und wie sie leben. Was es heißt, wenn die Heimat zerstört wird. Und wie es sich anfühlt, wenn sie einem genommen wird, weil die eigenen Überzeugungen nicht mit dem Krieg, den das Heimatland führt, vereinbar sind. Nora Krug hat 52 Wochen lang die Berichte gesammelt und illustriert. Auszüge aus den visuellen Tagebüchern wurden u.a. in Süddeutscher Zeitung und L.A. Times veröffentlicht. Dieses Buch umfasst das ganze erste Kriegsjahr. Das erste Jahr eines Krieges, von dem die Welt dachte, er würde keine sechs Tage dauern.

Ausgezeichnet mit dem Overseas Press Club Award 2023. Die L.A.-Times-Serie war für den Pulitzer Preis nominiert.

Zur Autorin

Nora Krug, geboren 1977 in Karlsruhe, studierte Bühnenbild, Dokumentarfilm und Illustration in Liverpool, Berlin und New York. Ihre Zeichnungen und Bildergeschichten erscheinen regelmäßig in großen Tageszeitungen und Magazinen (u.a. »The New York Times«, »The Guardian«, »Le Monde diplomatique«). Sie ist Fulbright-Stipendiatin und erhielt zahlreiche Preise und Förderungen, u.a. der John Simon Guggenheim Memorial Foundation, der Pollock-Krasner Foundation und der Maurice Sendak Foundation, außerdem verlieh ihr das Victoria and Albert Museum in London den Titel »Illustrator of the Year«. Ihr Debüt »Heimat. Ein deutsches Familienalbum« feierte als internationales Buchereignis einzigartige Erfolge, in den USA wurde es mit dem National Book Critics Award ausgezeichnet und in Deutschland 2022 zur Schullektüre ernannt. Krug ist Professorin für Illustration an der »Parsons School of Design« in New York und lebt in Brooklyn.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden