Ronald Reng - Diese langen Haare wollten mehr

#TexasText/Jamal Tuschick Eine wissenschaftliche Herangehensweise an den Sport bringt die DDR bereits Ende der 1960er Jahre im internationalen Vergleich in eine Spitzenposition.

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„Diese langen Haare wollten mehr.“ Helmut Böttiger über Günter Netzer, der in den 1970er Jahren als Rebell im Geist der antiautoritären Bewegung wahrgenommen wurde.

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„Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will.“ Cees Noteboom

Informelle Helden

Am 11. September 1973 stürzt General Pinochet in Chile den weltweit ersten demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten. Salvador Allende quittiert den Staatsstreich mit Selbstmord. Pinochet errichtet eine Diktatur, die weltweit Schockwellen der Empörung auslöst. Zum Symbol der Pinochet-Pression werden in Straflager umgewandelte Fußballstadien. Viele Regimegegner fliehen in die DDR.

Neun Monate und elf Tage nach dem Putsch spielt die chilenische Nationalmannschaft im Berliner Olympiastadium vor 17.400 Zuschauern gegen Australien. Es kommt zu einer Unterbrechung wegen einiger Anti-Pinochet-Demonstranten auf dem Platz. Die Partie endet zwei Stunden vor einer deutsch-deutschen Begegnung der besonderen Art im strömenden Regen 0:0. Für beide deutsche Mannschaften stellt das Ergebnis eine Erleichterung dar. Ihr Weiterkommen hängt nun nicht mehr vom Spielausgang ab. Es geht aber immer noch um den Gruppensieg.

Ronald Reng, „1974 - Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte“, Piper, 430 Seiten, 24,-

Reng nutzt die historische Begegnung am Samstag, den 22. Juni 1974 als Kulminationspunkt einer recherche du temps perdu. Zu seinen informellen Helden zählt Willy Brandts 1961 geborener Sohn Matthias. Die Fußballleidenschaft des Heranwachsenden macht ihn zum idealen Stellvertreter seiner Generationskohorte.

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Eine wissenschaftliche Herangehensweise an den Sport bringt die DDR bereits Ende der 1960er Jahre im internationalen Vergleich in eine Spitzenposition. Gemessen an der Größe des Landes und seiner wirtschaftlichen Potenz ist die Sportnation DDR spektakulär erfolgreich. Honecker hat den athletischen Wettkampf in all seinen Spielarten zur Chefsache erklärt. Zu den Besten der Welt zu gehören, ist stets das Klassenziel. Die Bundesrepublik muss bei jedem direkten Vergleich geschlagen werden.

Die DDR-Athleten sind „Diplomaten in Trainingsanzügen“. Sie trainieren unter Profibedingungen und unterlaufen notorisch die Restriktionen, die sich aus dem Amateurstatus ergeben. Es gibt keine Scheu beim Einsatz „unterstützender Mittel“.

Der Rigorismus führt zu Wettbewerbsverzerrungen, jedoch nicht im Fußball. Bei der Auslosung der Fußballweltmeisterschaft-Endrunde am 5. Januar 1974 kommt es dann zu der brisanten Paarung. DDR und BRD ereilen das Schicksal eines Lospaares.

Rengs Revue

Der Autor holt weit aus. Ich variiere Rengs Revue der Verhältnisse im Jahr der Weltmeisterschaft. Im März 1974 wird die Volljährigkeitsgrenze von 21 auf 18 herabgesetzt. Im April gibt es diesen Augenblick, in dem wir alle Portugiesen sind, und die weltweit schönsten Bilder aus Lissabon kommen. Man sieht mit Nelken geschmückte Soldaten.

„Die Nelkenrevolution ist der durch den Militärputsch in Portugal am 25. 03. gegen die autoritäre Diktatur des Estado Novo ausgelöste Übergang zur Demokratie.“ Wikipedia

Es ist die Zeit der Ölkrise, der abflauenden Entspannungspolitik und der Verschärfungen auf dem Arbeitsmarkt. Die Renten sind trotzdem sicher und das Gesundheitswesen ist kostenlos. Der deutsche Wohlfahrtsstaat erreicht das skandinavische Niveau. Im Erfolg von Ikea offenbart sich jene Ästhetik zwischen Prosperität und Pazifismus, die zur Epochensignatur avanciert.

Die Bundesrepublik wähnt sich als kleine Schwester des freundlichen Riesen USA in souveräner Sicherheit. Die DDR heißt volkstümlich weiterhin „Ostzone“. Die erste Generation der Roten Armee Fraktion um Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin sitzt in Stammheim ein. Nachahmer:innen suchen den Anschluss an weltweite antikoloniale Befreiungskampfallianzen. Die „repressive Toleranz“ (Herbert Marcuse) des Staates zeigt Wirkung. Willy Brandt erreicht seine Grenzen als einziger Visionär der regierenden Klasse. Das Ansehen des vierten Bundeskanzlers schwindet. Seine Gegner, die ihn Jahrzehnte als Vaterlandsverräter denunziert haben, wittern Morgenluft. Die schweigende Mehrheit und die Wutbürger von 1974 nennen ihn „Asbach-Willy“, während die Molle zum Bauarbeiter gehört wie die frische Luft, und Führungskräfte sich vormittags mit Sekt und Likör in Form bringen.

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Brandt, der 1969 knapp Kanzler geworden war, erlebte am 19. November 1972 seinen größten Triumph. Bei einer Wahlbeteiligung von über neunzig Prozent wurde er mit 45,8 Prozent der abgegebenen Stimmen (in einer vorgezogenen Wahl) im Amt bestätigt. Doch der von den eigenen Leuten hart angegangene Tribun war zermürbt. Kurz nach dem Sieg mussten seine Stimmbänder geschält werden. Herbert Wehner und Helmut Schmidt nutzten die Rekonvaleszenzabsenz, um ihren Chef in den Koalitionsverhandlungen zu hintergehen.

Der Sieg folgte dem konstruktiven Misstrauensvotum vom 27. April 1972. Eine Frage lautete: Wer ließ sich bestechen, um Brandts Kanzlerhals beim Misstrauensvotum zu retten? Oppositionsführer Rainer Barzel hatte schon einen Friseurtermin im Kanzleramt vereinbart.

Im Mai 1974 wird Brandt endgültig vom Thron der Bonner Republik gestoßen, kurz nach der offiziellen Enttarnung von Günter Guillaume. Nun sei die anbiedernde Ostpolitik zu Ende, sagen nicht wenige. Auch in der SPD sind kalte Krieger, die Brandt Führungsschwäche vorgeworfen haben und den Sturz begrüßen. Man hat ihn schon mit Brigitte Seebacher zusammen gesehen, sie arbeitet in der Pressestelle des Parteivorstandes im Bonner Erich-Ollenhauer-Haus. Bald mehr.

Aus der Ankündigung

Selten gibt es Augenblicke in der Geschichte, die wie ein Brennglas wirken. Das einzige Fußballspiel zwischen der DDR und der Bundesrepublik ist ein solcher herausragender, brisanter und zugleich universaler Moment. Als sich am 22. Juni 1974 für neunzig Minuten die Bruderstaaten gegenüberstanden und die DDR durch das Tor von Jürgen Sparwasser den Sieg davontrug, brachte das Ereignis auch Menschen zusammen, die mit dem Fußballspiel an sich wenig zu tun hatten. Und sie würden das Leben in beiden deutschen Ländern auf unterschiedlichste Art beeinflussen. Davon erzählt Ronald Reng auf unvergleich fesselnde und kluge Weise. So wird sein Buch „1974“ zu einem bestechenden Zeugnis gesamtdeutscher Alltagsgeschichte, lange bevor es ein wiedervereinigtes Deutschland geben sollte.

Zum Autor

Ronald Reng, 1970 in Frankfurt am Main geboren, machte sich als Autor von erzählerischen Sachbüchern einen Namen. Sein Werk über den vergeblichen Kampf des Fußball-Nationaltorwarts Robert Enke gegen die Depressionen war ein internationaler Bestseller. Rengs Bücher wurden vielfach prämiert, unter anderem erhielt er den renommierten Preis „NDR Kultur Sachbuch des Jahres“ sowie dreimal den Preis „Fußballbuch des Jahres“ . Zuletzt erschien von ihm „Der große Traum“. Für das Buch begleitete er neun Jahre lang drei Jungen, die Fußballprofi werden wollten. Nach seinem Studium von Politikwissenschaften und Journalistik in München lebte Reng fast zwei Jahrzehnte in London und Barcelona. Heute ist er mit seiner Familie in Südtirol zu Hause.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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