Tote Türken

NSU-Prozess „Die haben gedacht, wir waren das“ – Eine Gegendarstellung – Im Studio Я des Maxim Gorki Theaters stellten Funda Özfırat, Özge Pınar Sarp und Ebru Taşdemir einen ...

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eingebetteter Medieninhalt

Die Originalbesetzung des „Nationalsozialistische Untergrunds“ löste sich 2011 auf. Im Mai 2013 erhob der Generalbundesanwalt Anklage u.a. gegen Beate Zschäpe. Die Anklageschrift stützt die Vorstellung von einer Terrormonade, die sich ab 1998 isolierte und nach ihrer Selbstzerstörung nichts Anschlussfähiges zurückließ. Inzwischen sind neun zusätzliche Ermittlungsverfahren gegen namentlich bekannte Beschuldigte und ein Verfahren gegen Unbekannt („Strukturermittlungsverfahren“) anhängig.

Im Prozess spielt die Bundesanwaltschaft eine Doppelrolle. Sie ist Verteidigerin und Staatsanwältin zugleich. Sie vertritt die Bundesrepublik als (von einer terroristischen Vereinigung) Geschädigte und sie hält die Bank der Anklage. Durch diese Konstruktion scheint das Primat der Staatsräson. Jede andere Feststellung zeigt sich in dem Verhältnis inferior, zumal die Bundesanwaltschaft den Regierungsstandpunkt zu berücksichtigen hat, ihr folglich die Unabhängigkeit einer judikativen Instanz fehlt. Amtlich hintertreibt sie die Aufklärung staatlicher Verstrickungen: zur Abwendung von Schäden am Gesellschaftskörper und so auch zum Schutz der Organe. Ich erinnere an das neblige Verständnis des Richters Manfred Götzl für Andreas Temme. Der Verfassungsschützer war zum Zeitpunkt von Halit Yozgats Ermordung 2006 in einem Kasseler Internetcafé anwesend, will vom Tatgeschehen aber nichts mitbekommen haben.

Die Perspektive der Hinterbliebenen bleibt im Vergleich mit so viel Hoheit „eine Leerstelle“. So sagte es Funda Özfırat bei der Vorstellung der von hier mitherausgegebenen, 2016 erschienenen und nun in der zweiten Auflage vorliegenden Gegendarstellung „Die haben gedacht, wir waren das“.

In 39 Beiträgen veröffentlicht sich eine alternative Sicht auf die faschistische Freiheit, die das NSU-Trio lange genoss. Die Autor*innen erzählen, „welche Spuren der institutionelle Rassismus in migrantischen Gemeinschaften hinterlassen hat.“

Der Titel zitiert den Angehörigen eines NSU-Opfers. Man vermutete die Täter bis zu ihrer Selbstenttarnung im Milieu der Opfer (Stichwort: „Dönermorde“) und erwartete, am Ende eine Abrechnung unter kleinkriminellen Ausländern aufgedeckt zu haben. Sowohl die Ermittlungen als auch die Berichterstattung seien rassistisch gewesen, sagte Ebru Taşdemir.

Wieder stellte sich die Frage, was gewesen wäre, hätten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt autochthone Deutsche erschossen.

„Jeder kennt die Namen der Täter, kaum einer kennt die Namen der Opfer.“

Die Mehrheitsgesellschaft interessiert sich nicht für tote Türken.

„Die Dönertoten gehören nicht zu uns: das ist eine symbolische Ausbürgerung.“

Vermutlich verrechnen viele die Ermordeten mit den Opfern islamistischer Gewalt. Das wäre die Bürgerkriegslogik.

Die Generalbehauptung der Herausgeber*innen geht dahin, dass Angehörige der Ermordeten zum öffentlichen Schweigen gebracht wurden. Gleichzeitig nährt die Bundesanwaltschaft die Legende vom kleinen Kreis, der Prozesserweiterungen zum Trotz. So behauptet sie weiter, dass der NSU keine Vor-Ort-Unterstützung beim Erkunden der Tatorte hatte.

Taşdemir, selbst Journalistin, beschrieb, wie es zu der Vernachlässigung der Opfergeschichten in den Medien kommen konnte. Auch da ist Rassismus rechts wie links zuhause. Taşdemir liefert eine Schlagzeile zur Illustration von nicht begriffenem Rassismus:

„Ums Leben kamen acht Türken, ein Grieche und eine Polizistin.“

Zum Schluss äußerte sich Özge Pınar Sarp, als „echte Migrantin und Antifaschistin“. Sie kam 2010 nach Deutschland, um zu promovieren. Auf der Bühne exponierte sie die Verbindungen zwischen dem reaktionären Tiefen Staat der Türkei und deutschen Rechtsextremen. Die Rechtsextremen Europas singen die Internationale der Waffenbrüderschaft in einem besseren Chor als die Schrägen auf der Gegenseite.

„Die haben gedacht, wir waren das: MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus“, herausgegeben von Kemal Bozay,‎ Bahar Aslan,‎ Orhan Mangitay,‎ Funda Özfirat, PapyRossa Verlag, 16.90,-

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden