In der Pissrinne des Literaturbetriebs

Literaturbetrieb Bevor ihn ein LKW überfuhr, tat das der Literaturbetrieb jahrelang schon mit vernichtender Hingabe. Eine Hommage auf Jörg Fauser

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In der Pissrinne des Literaturbetriebs

Foto: Fauser Archiv

Musikhinweis: Chris Rea - The Road to Hell (Full Version)

Es war irgendwann Ende der Neunziger als ich mit der Schule in eine Aufführung der hannoverschen Staatsoper ging und Orpheus in der Unterwelt schaute. Orpheus stieg aber nicht in die Hölle, sondern in ein Schwimmbad ab, und irgendwie war da mehr Party und mehr Poolfeeling (Tipp Karine Laval: Poolscapes. Steidl Verlag) als in der Oberwelt. Ich habe so einen Hang zu unten; das darf man bei allem Leid nicht romantisieren, aber ich habs gern authentisch und das ist es oben meistens nicht.

Ob man oben oder unten landet, ist eine Frage der Unklarheit. Was heisst schon Erfolg? In unserer Welt, finde ich, kann der Misserfolg auch gerade den Erfolg symbolisieren. Denn in der literarischen Welt herrscht wenig Herzlichkeit. Wir sind der Kern der Eitelkeit. Doch wer ist heute nicht eitel geworden? Aber der Literaturbetrieb, oft subventioniert, ist so etwas wie die Pissrinne der aufrichtigen Zwischenmenschlichkeit. Da muss ich spontan an einen Festivalbesucher denken, der vor laufenden Kameras nicht raffte, dass er seine Hände grade statt in einer Wasserrinne in einer Pissrinne wusch. Er nahm es dennoch gelassen.

Der Gedemütigte

Für Jörg Fauser gab es leider bei allem Können und verqueren Sein nie die Anerkennung, die andere bekommen, aber gar nicht verdienten. Man kann es sich nicht erklären, warum manches gehyped wird und manches nicht. Es ist Zeitgeist, Marketing und teilweise ekelhafte Abgebrühtheit der später Gefeierten. Und damit doch alles Zufall. Jörg Fauser ertrug es geduldig. Er wurde vor laufenden Kameras gedemütigt, erniedrigt, ausgestoßen. Dass er dennoch durchhielt, ist fast übermenschlich. Ich küsse ihn dafür gen Himmel, dabei die Contenance bewahrt zu haben. Wenn man sieht wie er beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Innsbruck niedergemacht wurde, oder bei der Sendung mit dem dämlichen Titel Autor-Scooter sich mit Petitessen herumschlagen musste. Sorry, was soll das? Es gibt keine schlechte Literatur. Es gibt nur die, die nix für einen ist.

Das mit dem Scheitern ist so ein Phänomen. Auch ich fausere mich so durch die Welt. Schule abgebrochen, alle formalen Ausbildungen nur mit ach und krach und schlechten Noten bestanden und doch sitze ich zufrieden (meistens) in meinem Stammcafé und schaue durch die Glasfront. Neben mir nicht selten die richtigen Menschen in den mittleren Jahren. Er adrett, aber willenlos. Dafür hat sein „Ein und alles“ neben ihm, den Willen beinahe auf die Stirn gestempelt. Sie in graziler Karottenjeans, die sie sich erhungert, aber nie zugeben würde, das ihre Laune daher rührt. Er scrollt heimlich durch die Instagram-Profile von Curvymodels, denen er in der Gästetoilette ihres Reihenhauses mit Handtuchgarten gern näher ist, als sein „Schatzi“ sich nur annähernd vorstellen könnte.

It´s a wonderful life - isn´t it?

Was genau Jörg Fauser im betrunkenen Zustand in der Nacht nach seinem dreiundvierzigsten Geburtstag dazu gebracht hat, eine Autobahn per pedes queren zu wollen, wird sich nie klären. Doch dahinter irgendein Komplott zu vermuten, ist eine menschliche Verzweiflung, nicht verstehen zu können, das völlig sinnlose Dinge geschehen. Ob es mit seiner Resignation zusammenhing? Oder einer alkoholbedingten „Scheiß-egal-Einstellung“? Wir werden es eben nie wissen. Beruhigend ist, Jörg Fauser wurde verlegt, er erlebte wie er publiziert wurde, und er hielt sich wacker gegen alle Widerstände. Und doch bleibt da dieses Quäntchen Traurigkeit, wenn man an seine früh abgebrochene Vita denkt, wie er von LKW-Reifen auf dem Asphalt der A9 zerrieben wurde.

Der Diogenes Verlag bringt seit 2019 mit großer Verve Fausers Gesamtwerk heraus. Ganz schick, ganz in Leinen und lautem Knallpeng. Die Frage ist nur, ob es nicht schon zu spät ist. Hat sich das Rezeptionsfenster der breiten Masse nicht (und nicht sowieso) geschlossen, weil die Achtzigerjahre eben lange vorbei sind? Das Monument, welches Verleger Keel Jörg Fauser setzt, ist ein verdientes. Ich liege mit Fausers Roman Schlangenmaul auf der Couch, es ist Samstag und ich schlafe genüsslich ein. Es gibt wenig Schöneres als beim Lesen wegzudämmern und in einen traumvollen Schlaf zu gleiten.

Ich klopfe an die Himmelstür und ein gesichtsloses Wesen öffnet.
„Ja, bitte, Sie wünschen?“
„Jörg Fauser, bitte. Ich möchte zu Jörg Fauser.“
„Warten Sie,“ sagt das gesichtslose Wesen und dreht sich weg.

Schlaft und träumt, so schlafet doch

Kaum später kommt es mit Fauser wieder. Fauser wirkt keinen Tag älter als damals. Er trägt immer noch seinen beigen Trenchcoat und ist frisch rasiert (er ist also definitiv in der Vergangenheit geblieben). Er wirkt mürrisch und hält einen Zahnstocher zwischen seinen Zähnen.

„Herr Fauser, Herr Fauser, da sind Sie ja!“ entgegne ich ihm atemlos, obgleich es in den Himmel gar keine Treppen gibt.
„Ich muss Ihnen etwas erzählen, es wird sie freuen!“
„Wer sind Sie?“
„Das ist doch egal“, entgegne ich aufgeregt.
„Was wollen Sie?“
„Ich will Ihnen etwas sagen. Philipp Keel...“
„Der von Diogenes?“
„Jaja, aber der Sohn inzwischen.“
„Der hat grad sein Abitur.“
„Nein, der ist, wie Sie, auch älter geworden und leitet nun den Verlag.“
„Ich bin nicht älter geworden, schauen Sie mich an. Ich bin ich.“
„Ich berichte ihnen aber von Jetzt.“
„Was ist das, Jetzt?“
„Naja, von jetzt 2020.“
„Wie zwanzigzwanzig?“ Fauser schaut genervt.
„Na, das Jahr?“
„Spinnen Sie?“
„Nein, äh, eigentlich, also... Ihr Werk wird ganz groß verlegt. Bei Diogenes. Ganz neu. Leinen, meerblaues Vorsatzblatt. Ihre Briefe, Essays, einfach alles. Ganz wild!“
Fauser blickt.

Der Blick zurück, die Zeit, das Leben und Fauser

Das gesichtlose Wesen kommt erneut.
„Herr Fauser muss wieder ruhen,“ sagt es sonor.
„Quatsch!,“ rufe ich aus. "Er ruht doch schon seit über dreißig Jahren! Seinen Erfolg muss er doch...“
Das gesichtslose Wesen unterbricht mich kalt und schneidend.
„Hier braucht es keinen Erfolg um zu sein.“
„Aber wir könnten doch Reich-Ranicki und Härtling ranholen und ihnen zeigen wie der Erfolg...“
„Sie sind alle hier, aber nicht wie Sie denken. Nichts ist wie Sie denken. Gehen Sie wieder zurück in die Welt. Sie werden erfahren was ich meine, später.“
„Aber ich wollte nur, Herr Fauser, Ihr Werk endlich...!“
„Es ist genug!“, sagt das gesichtlose Wesen.
Fauser schaut derweil starr.

Die Tür knallt laut ins Schloss, ich werde wach. Leichter Schweiß am Haaransatz. Es klingelt, der Paketbote drückt den Klingelknopf beharrlich. Es ist diese Stufe zwischen den Bewusstseinszuständen. Ich lasse es klingeln und wische mir den Nachtschweiß am hellichten Tag weg. Auf dem Schreibtisch liegt das aktuelle Werk von Suter und Stuckrad-Barre. So schlecht, sage ich unvermittelt zu mir. Und dann, dann wird es mir klar. Ich sehe es ganz genau. Es ist wie in der Philosophie. Wo Berge sind, da sind auch Täler. Das Buch von Suter und Stuckrad-Barre, es ist das Tal und wenn das das Tal ist, dann ist Fauser, dann ist er der Berg. So muss es sein.

Nachtrag

Wie fausert man sich?
Wie man Fauser angeht, bleibt jeder Lesenden, jedem Leser immer selbst überlassen. Hören Sie auf Ihr Lesegefühl und nicht auf Influencer, die da auf Instagram irgendwas brabbeln, von dem sie selbst nicht wissen, was.
Nur ein galanter Tipp: Vielleicht beginnen Sie mit Fausers Schlangenmaul, lesen dann den autobiographischen Rohstoff, schließen dann mit Die Tournee (Fausers nicht beendeten Roman mit erklärendem Teil zu seiner Werkgenese) und dann, dann schauen Sie, was Sie begeistert. Die Essays und Kurzetexte sind natürlich sehr achtziger und früher addicted. Oder Sie warten auf den Briefwechsel, der bald erscheint.
Lesen Sie Fauser jetzt, später oder nie. Es ist Ihr Leseleben.

Jörg Fauser, geboren 1944 bei Frankfurt am Main, schlägt sich mit klassischen Gelegenheitsjob durch, wird drogenabhängig und kuriert sich selbst davon. Lebt in Istanbul, Berlin und in Göttingen - in der gleichen Straße, in der der Steidl Verlag residiert. Ab 1974 lebt er vom Schreiben. 1987 stirbt er auf einer Autobahn bei München. jörg-fauser.de

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