Lassen wir die gedrechselte Vita von Sophie Calle auf dem Plastikschutzumschlag mal außen vor, ist sie ein interessierter Mensch. 1983 findet sie also ein Adreßbuch (damals noch mit ß!) auf der Straße (immer noch mit ß!), genauer gesagt der Rue des Martyrs in Paris und nimmt es mit. Sie kopiert es, um es dann an seinen Besitzer, Pierre D., zurückzusenden. Die Story ist echt, sie erschien als Kolumne in der Libération im August und September 1983. Calle fragt sich, was die Google-Bilderrückwärtssuche nun per Algorithmus herausfindet: wer ist das hinter den Ergebnissen? Wo kommt er her, wie ist er und vor allem wer?
Manche Rezensionsexemplare vergisst man, und räumt sie ins Regal. Beim Göttinger Steidlverlag erscheint aktuell das Fotobuch von Henry Leutwyler mit dem Titel Hi there, was ein Telefonbuch von Frank Sinatra abbildet. Im Gegensatz zu digitalen Speichermedien zeichnen die Adreßbücher von Pierre D. und Frank Sinatra das Leben nach. Sie haben Patina, sie dokumentieren Änderungen, Streichungen und Unfälle des Alltags, wenn das Buch Schrammen bekommt, wellig wird. Mit dem Erscheinen von Hi there denke ich auch wieder an das in der Bibliothek Suhrkamp erschienene Buch von Sophie Calle und suche es im Regal. Die Idee dahinter ist fast genial, den Menschen in einer Art Rückwärtssuche aus Mosaiken der Beschreibungen Dritter "erschaffen" zu wollen. Calle dokumentiert die Treffen mit den einzelnen Personen, die in dem Adreßbuch von Pierre D. verzeichnet sind.
Kein Anschluss unter dieser Nummer?
Was wissen die Menschen wirklich von einem? Was können Dritte wirklich von einem Menschen beschreiben, geschweige denn erklären? Über die Qualität von Zeugenaussagen gibt es bereits genug Späße, und das nicht so unbegründet. Was mehrere Menschen in ein und derselben Situation sehen, ist sehr verschieden. Grundlegendes Wissen, Blickwinkel, Vorerfahrungen, Vorurteile, Wachsamkeit und Kombinationsfähigekeit sind nur einige Kriterien, die Menschen eine Situation verschieden wahrnehmen und dann später beschreiben lassen. Manchmal auch mit der Erkenntnis, dass sie mit der Wiedererzählung an sich überfordert sind.
Der Gedanke an sich ist statthaft, aber man darf nicht mit einem Röntgenbild von Pierre D. rechnen. Eher mit einem Schattenabbild einer Person, die Pierre D. für die einzelnen Personen im Alltag ist. Aber auch das ist spannend. Und lässt sich vielleicht in die Neuzeit retten: wie organisiert jemand sein Smartphone? Wie sortiert er Apps, welche Apps nutzt er? Nur der Zugang ist nicht mehr so einfach wie 1983.
Ob Pierre D. das ganze gefallen hat, dass sein Umfeld seinetwegen sondiert wurde? Dass er (anonym) in einer Kolumne der Protagonist war? Lesen Sie im Buch. Und vielleicht schreiben Sie sich den Buchtipp ja noch in ihren Filofax. Aber dann bitte nicht verlieren. Sophie Calle kann ja nicht jedes Adreßbuch finden.
PS: Der Preis von 22 Euro ist expensiv. 18 Euro hätten dem Werk besser gestanden.
Sophie Calle: Das Adressbuch, Suhrkamp Verlag, 22€
Kommentare 1
Buchpreise sind in der Tat schwer aus dem Lot geraten, obwohl die Herstellung ungemein erleichtert ist. Auch meines kam zu diesem Preis. Zwar kein Hardcover, aber zum Ausgleich mit über 360 Seiten. Der Erlös für Autor: Trotz Preis lächerlicher ein Euro. Wamse kriegen halt den Hals nicht voll.
Es sei mir verziehen, aber eine Parallele reizt zu sehr, um sie nicht loszuwerden.
Denn auch meinerich fand Sommer 1983 etwas. Und zwar wieder. Auf einer Straße in New York. Einen Ohrring, den ich der Geliebten von Indianern aus Arizona mitgebracht hatte. Die hatte sich in die Dinger dann auch schwer verguckt, und war über Verlust des einen den Tränen nah.
Mitten in der Millionenstadt, fand er sich aber unbeschädigt auf dem Boden, und die Besitzerin sich im siebten Himmel wieder.
Tschuldigung.