Schoeller-ism

Visuelle Kunst Martin Schoeller schafft seit zwanzig Jahren etwas einzigartiges. Man nennt es Stil

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„Jay Z“ - Martin Schoeller: Works, 1999 - 2019
„Jay Z“ - Martin Schoeller: Works, 1999 - 2019

Foto:Martin Schoeller (published by Steidl 2020)

Langsam mache ihr die Abgeschiedenheit sogar Freude, schrieb mir eben eine Freundin. Vielleicht hat alles wirklich auch immer eine gute Seite. Wenn das für eine Pandemie gilt, dann das die Menschen zumindest die Chance haben, sich auf sich selbst wieder ein wenig zu besinnen. In einer Zeit, in der das Potpourrie der Ausreden, warum man sich nicht treffen könne, immer mehr einschränkte, scheint es nun heilsbringend, dem ausgelaugten Individuum wieder einen KO-Hebel für Ausgehanfragen an die Hand gegeben zu haben. Alles zu gefährlich! Vielleicht war aber ohnehin schon vorher alles gefährlich und der Genuss wird ja auch nur dann einer, wenn man sich ihm hingeben kann. Da gaben sich die Menschen nur dem "Weiter" hin, was dem "Jetzt" den Garaus machte. Und das Erleben des "Jetzt" ist eine, vielleicht die eine Kompenente, die es zum Genuss von Kunst benötigt. Sich einer Sache hinzugeben, ohne das Nächste im Blick zu haben. Was kann alles aus Langeweile entstehen! Im Interview mutmaßte der ehemalige BGH-Richter Thomas Fischer sogar, dass eventuell große Werke der Kunst in dieser Phase entstehen könnten.

Schlangen

In Frankfurt am Main gibt es seit Monaten eine Ausstellung, bei der man sich fragt, woher nun doch der sehr große Hype kommt. Wenn man am Städel entlangfährt, welches am südlichen und pittoresken Main-Ufer gelegen ist, erkannte man immer, ob sehr viel oder sehr, sehr viel los war. Die Schlange bog sich an extremen Tagen um die Ecke in eine Seitenstraße und man konnte beim Vorbeifahren kaum ihr Ende erspähen. Was reizte die Menschen plötzlich, so sehr diesem Künstler zu huldigen, der zu Lebzeiten (Sie ahnen es) nicht berühmt war? Und jetzt stand das selbsternannte Kulturpublikum mit gewichtiger Miene, mal mit, mal ohne Schirm, an einem schmiedeeisnernen Zaun Schlange. Vor dem großbürgerlichen Bau extra Kassenhäuschen und auch mein Vater, in Dresden residierend, meinte am Telefon: Lass´ uns da mal hin. Nunja, diese Ausstellung wurde zum Ballermann auf der Sachsenhäuser Seite, die Psychodynamik habe ich derweil nicht durchdrungen - und dann kam Corona.

Schoeller - who?

Auch Künstler leben in verschiedenen Kasten, ob sie wollen oder nicht. In der deutschen Wikipedia steht gleich im zweiten Satz über ihn: "Er zählt in den USA zu den bekanntesten jungen Fotografen, während seine Arbeiten in Deutschland noch relativ unbekannt sind."
Ohne Quellenangabe kann das nur eine Mutmaßung einfacherer Natur sein, der generelle Eintrag hält sich eher straff, soll sagen, eher kurz.
Dabei hat der in Frankfurt am Main geborene Martin Schoeller eine Karrie sondergleichen hingelegt. 1993, mit 25, ging er nach New York und wurde Erster Assistent von Annie Leibovitz (oh my goodness!). Er arbeitete für den New Yorker, GQ, Harper´s Bazar (bei dem auch Robert Frank seine Chance bekam, sich zu beweisen (als er aus der Schweiz kam)).

Nah dran

Weltbekannt wurde Schoeller mit seinen Close-Ups. Standarisierte Nahfotografie des Gesichts bei dem ich immer an den Roman von Leander Haußmann NVA denke: ausdruckslos gucken! Mit zwei Lichtsäulen, der Linse auf ausgemessener Augenhöhe. So nähert er sich vielen Menschen, Menschengruppen, besonders vulnerablen. Neben Prominenten wie Julia Roberts, Jack Nickolson oder Bill Clinton widmete er sich liebevoll verfolgten Gruppen wie Transgendern und Obdachlosen (Bryan Adams brachte dazu auch eine Serie bei Steidl). Auch seine weiteren Werke machen das, was einen Fotograf bzw. Fotografin eben auszeichnet: man erkennt einen Stil. Wenn Sie mir Bilder einer französischen Landschaft vorlegen, kann ich Ihnen inzwischen sagen, ob diese vom französischen Fotografen Thibaut Cuisset sind. Und so ist es auch bei Schoeller. Seine Fotografien von Jay Z am Bistrotisch nebst Katze oder dem Regisseur Quentin Tarantino an einer Trage festgebunden mit Friedenstauben, atmen den Schoeller-ism.

Einen Katalog, bitte!

Wären die Zeiten wie immer, würde man eine Auswahl des Werkes der letzten zwanzig Jahre im NRW-Forum sehen können. Doch die Zeiten sind anders. Aber das ist gar nicht schlimm, denn es gibt einen "Katalog" zu dieser Ausstellung. Darauf wäre der Autor gar nicht gekommen, dachte er doch, es handle sich um ein reguläres visuelles Buch aus der Göttinger Druckhöhle, dem Steidl Verlag. Nur in einem Nebensatz sagte jemand, es sei der Katalog zur Ausstellung. Und wenn die Fotografien von Schoeller für sich schon sprechen, so beginnen sie durch den formidablen Druck aus der Düsteren Straße erst recht zum Leben erweckt zu werden. Eine phantastische Papierwahl und lebendige Farben - man vergisst dabei den Drang, in eine Ausstellung zu gehen. Das Buch lebt - in einer Krise noch viel heller als bisher schon.

Martin Schoeller: Works, 1999-2019, Steidl Verlag, Göttingen 2020. 28€

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