Selbst „Deregulierung“, der Kampfbegriff des Neoliberalismus, ist aus der Kunst in den Kapitalismus gewandert. Es war der französische Dichter Arthur Rimbaud, der 1871 ein „Dérèglement de sens et des mots“ forderte, und damit „die spirituelle Skyline der spätmodernen Poesie“ schuf. So erinnert es der italienische Marxist Franco „Bifo“ Berardi in seiner Studie Der Aufstand. Sie entstand 2011 und ist nun auf Deutsch erschienen.
Sprachlos ist bei ihm nicht nur derjenige, der gerade auf seinen überzogenen Dispo blickt. Sprachlos ist ganz Europa, weil sich hier alle in einer Semi-Inflation befinden, was heißt: Für immer mehr Wörter gibt es immer weniger Inhalt zu kaufen. Nicht nur die Gedichte Rimbauds und die Wirtschaft des Euroraums sind dereguliert, sondern quasi alle Bereiche des modernen Lebens. In jedem Winkel warten kleine Kriegsmaschinen, die den Wettbewerb sichern. Wie konnte es so weit kommen? Was führte zu Wirtschaftsdepression und Burn-Out-Epidemie, zu den Revolten von London, Athen, Madrid, zum großen, in einer Spirale der Radikalisierung steckenden „Aufstand“ einer Jugend, die man um ihre Zukunft betrogen hat?
Nach Berardi ist die Begründung einfach: Wort und Referent waren einst aufeinander bezogen wie die erste Goldmünze, deren aufgedruckter Wert exakt dem Wert des Materials entsprach. Wer die erste Goldmünze einschmolz, hatte immer noch den gleichen Wert in der Hand, und wer etwa das Wort Freundschaft aussprach, der konnte sich eines festgesetzten Wertes sicher sein. Dann ging alles relativ schnell den Bach runter. In der Sprache kamen die Symbolisten und trennten das Wort vom Referenten, die Buchstabenfolge „Baum“ sollte plötzlich nicht nur eine Pflanze bezeichnen, sondern unendlich viel mehr. Und 1971, hundert Jahre nach Rimbauds Postulat des Dérèglement, verkündete Richard Nixon die Dereferentialisierung der modernen Ökonomie: „Der Präsident der USA brach die Vereinbarungen von Bretton Woods, als er verkündete, dass der Dollar von nun an in keinerlei Beziehung zur Realität mehr stehen werde; dass sein Wert von nun an nicht mehr durch sein Verhältnis zu einem Standard oder zu einem ökonomischen Referenten bestimmt werde, sondern durch einen Sprachakt.“ War der Wert des Dollars bis dahin abgesichert durch eine real existierende Menge Gold, schwirrten fortan Zahlen ohne echten, in der Realität hinterlegten Wert durch die Körper des hyperbeschleunigten Kapitalismus.
Inzwischen ist die Sprache komplett auf Berechnung umgestellt. Jeder Begriff lässt sich in die Excel-Tabellen von Wirtschaftsberatern, Ratingagenturen und Zentralbankern einpflegen, auch der Begriff der Freundschaft (siehe der Freitag Nr. 26/2015).
Berardi empfiehlt hierzu, The Social Network von Fightclub-Regisseur David Fincher anzusehen. Denn der Film zeige mehr als die ersten Jahre der Firma Facebook. Gründer Mark Zuckerberg werde anhand seiner Beziehungen zu Frauen und Kollegen als Verlierer erkennbar, unfähig zu wahrer Freundschaft: „Existenzielle Unzufriedenheit und kommerzieller Erfolg sind zwei Seiten derselben Medaille: Geschickt analysiert Fincher die psychologischen Bedürfnisse von Zuckerbergs Generation, indem er seine intime Seelenlandschaft als Einsamkeit und affektive Frustration zeichnet.“ Freundschaft als Protokoll. Zuneigung als Klick. Wer hätte vor hundert Jahren gedacht, dass sich damit mehr als 220 Milliarden Börsenwert schaffen lassen?
Der Aufstand. Über Poesie und Finanzwesen Franco „Bifo“ Berardi Kevin Vennemann (Übers.) Matthes & Seitz 2015, 187 S., 22,90 €
Kommentare 14
kabo
Zuckerbergs Generation. Generation X - die erste vollendete Nerd-Generation.
Im Film sicher schön analysiert. Aber was war die Ursache?
Die Annahme ist sehr gewagt: "Wort und Referent waren einst aufeinander bezogen wie die erste Goldmünze, deren aufgedruckter Wert exakt dem Wert des Materials entsprach." Die Umgangssprache war stets sehr metaphernreich, ob im Hinblick auf Worte 'Freund' oder 'Bank'.
"die erste Goldmünze, deren aufgedruckter Wert exakt dem Wert des Materials entsprach"
zu allem Überfluß, was solle es bedeuten? "Die erste Goldmünze" ist allenfalls eine nicht relevanter Sonderfall in der Geschichte des Geldes, das vor jeder Münze schon mehr als 1000 Jahre auf dem Buckel hatte, und zwar als Kredt bzw Schuldschein. Die Münzen indes kam in die Welt , um stehende Heere über Steuern zu alimentieren, die mit genau den Münzen bezahlt werden mussten, die der Heerführer/Machthalter an die Söldner ausgab.
Von welchem Mythos der Münzen ist hier die Rede?
"Aber was war die Ursache?"
wenn Menschen selbt zur Ware werden ... u.a. weil sie sich durch ihren Lebensstil mit der eignen Subordination indentifizieren ...
Auf den Umstand, dass Rimbaud nur ein bekiffter und phantasiebegabter Poet und Literat war, der zudem mit nicht mal 20 das Dichten und Schreiben aufgab, die Aussetzung des Bretton Woods Vertrags durch Nixon aber auf die knallharten Finanzprobleme zurückgeht, die die USA sich durch den viel zu teuren Vietnamkrieg angelacht hatten, kommt erstmal keiner?
Wer da den Zusammenhang sucht, der findet ihn natürlich, aber nur in dem Sinne , in dem irgendwie alles zusammenhängt. Ich könnte zB. erklären was mein Großmutter damit zu tun hatte. Das wäre aber im besten Fall auch nur Literartur.
Ich denke, das ist zu subjektiv betrachtet. Das Subjekt der Generation X hatte wahrscheinlich kaum eine Alternative, als sich dem unterzuordnen, was ihm geboten wurde. "Alternativlosigkeit" ist ja auch bei uns hier sicher nicht umsonst ganz große Philosophie - ähäm...
Und das wäre die richtige Richtung, in der man nach Ursachen suchen sollte. Man muß also in irgend einer Weise bestehende Totalität und ein eingebautes Diktat von Kultur und Sein in der Selben vermuten. Generationenkonflikte im weitesten Sinne... oder so.
"Ich denke, das ist zu subjektiv betrachtet"
... in dem Sinne als das Subjekt sich selbst zu einem macht muss man es subjektiv betrachten.
Nein, es macht sich eben nicht "selbst" zu das, was es später ist. Nicht ohne Gegendruck. Und wie hoch der ist, hängt von bestimmten Bedingungen ab, die hier noch nie hinreichend besprochen wurden.
Hier nämlich geht man dem Populismus auch nur überspringend auf dem Leim.
Bei manchen (abhängig vom Kulturzyklus) entscheidet sich das mit dem Subjekt Sein schon in der Kindheit. Willst du behaupten, dieses Kind hätte einen Einfluß darauf, dass es "unterworfen" wird?
Je stabiler und mächtiger die Vorgängergeneration sei (und noch ein anderes sehr politisches Detail), desto schwerer hat es der Nachwuchs, sich gegen die Visionen des zukünftigen Seins der Vogängergenerationen zu behaupten.
Du müsstest, wenn du den die aussage ernst meinst, auch damit höchsteinverstanden sein, dass sich schon im Kindesalter entscheidet, wer zur zukünftigen Elite gehört. Und darin enthalten die Erkenntnis, das uns als Individuum eben nicht diese populierten gleichen Chancen gegeben sind.
Das sich Menschen freiwillig "unterwerfen" mag es geben. Aber diese Art Unterwerfung ist hier nicht gemeint. Andererseits ist es auch erwünscht, dass sich die Nachkommen an die Begebenheiten, die sie vorfinden, anpassen (sich also unterwerfen). Man hat ja schon mit viel Aufwand die Vorgängergeneration unterworfen und gibt sie nicht leichtfertig deren Nachkommen preis. Daraus geht aber auch hervor, dass sich die amtierende Generation an ihren Kindern versündigt - um des Status (quo) wegen, der unbedingt erhalten werden soll. Das geht soweit, dass die Elterngeneration nicht davor zurückschreckt, ihre Kinder mit Gewalt zu unterwerfen oder zu töten. Das ist ansich eine deutliche verschleisserscheinung der Kultur - und deutet den Niedergang an oder ist (An)Zeichen dessen.
Sie mögen recht haben. Ich meinte etwas anderes: Wir leben in einem gesellschaftlichen Denkmodell, das nur sehr bedingt eine nötige Distanz der eignen Wahrnehmung gegenüber zulässt, um alternative Ansätze über die Tranzendierung des scheinbar verbindlichen Denkmodells hinaus überhaupt denken zu können. Das Beispiel mag der systemkonforme, intellektuelle Akademiker sein oder zB. der nicht gesllschaftskritische Philosoph.
Sei das jetzt mit der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" verwand?
Die unmöglichkeit, ein anderes Denkmodell denken zu können? Distanziertheit gegenüber seiner eigenen Perspektive?
Im Grunde ist es der Freiheit zu schulden, das so sein zu lassen, wie es ist - dass sie eben in ihrer Welt stecken. Aber nur die Privatmenschen. Aber die haben sich ja in den vergangenen Jahren dominant in die politische Öffentlichkeit, sozusagen "selbstverschuldet" (was ja auch nicht stimmt), hineingezwängt. Und da steckt der Schuh, der zwickt. Das klingt alles sehr undemokratisch. Aber die Alltagsnormalität ist eben ganz und gar nicht "demokratisch" - wie ich erkennen musste. Sie ist eher an eine Aristiokratie angelehnt. Geradezu wie ein Darwinismus steht der best Geeignetste in der Herarchie oben und ditkiert. Effektiv "diktieren" muß auch gelernt sein (oder in die Wiege gelegt), wie alles andere auch, wenn Maximalleistung allenortes erste Forderung sei.
Wie weit "muß" der Normalmensch über seinen Horizont schauen zu können in der Lage sein? Und was, wenn er das gar nicht muß können? bei allem Humanismus, liberalität und Freiheit braucht es dann eben doch strenge Strukturen, die Übergriffigkeit verhindern. Nur wie?
ich habe es die Tage schon mal bei anderer Gelegenheit geschrieben: Es ist nicht beweisbar ob der Mensch von Natur aus ethisch ist, aber es ist beweisbar, dass er sich ethisch verhalten wird, wenn er in einer ethischen Umgebung aufwächst und unethisch wenn er in einer unethischen heranwächst. Ausnahmen bestätigen die Regel und sind verkraftbar.
Das Problem ist perfide: der Einzelne hält sich in einem absolut unethischen Geesllschafstsystem , dessen Reichtum auf purer Gewalt gegen andere beruht, dennoch für ein ethisch handelendes Individuum. Darin liegt das eigentlich Repressive und Unberührbare des Denkmodells. Sich klar zu machen wie sehr jeder einzelen, man selbst an dieser Grausamkeit beteiligt ist und dafür Verantwortung trägt, kommt einer Destruktion dieses Selbstbildes gleich. Man wendet sich also angewidert von einem unerträglichen, wirklichen Selbst lieber von der Wirklichkeit selbst ab ... und befriedigt die eigenen Bürgerpflicht mit einem oberflächlichen Informiertsein hauptsächlich zu Schuldzuweisungen und Legitimierungen bezüglich der grausamen Gelwatätigkeit, dei das Systems erhält und hervorbringt. Um hier nur auf der Wahrnehmungsebene auszubrechen bedarf es einigen Mutes.
Ich glaub, du hast mir das irgendwo schonmal ähnlich erklärt.
Also ich bin immer noch nicht ganz sicher, aber bei mir hat es zu dem Mut noch was anderes gebraucht. Und zwar "Neurodegeneration". Oder besser: eine Gehirnwäsche, die mir heute noch Kopfschmerzen einbringt - seit 6 Jahren. Allerdings ist das bei mir unklar, was eigentlich wirklich ist.
Anyway, ... Mir sind die von mir erkannten Methoden zur ethischen "Vervollkomnung" nicht geheuer und ich würde sie niemandem antun wollen. Sie verstiesse nämlich gegen jede redliche Ethik. Wenn ein Mensch zur Herstellung der minimal-Ethik gesundheitlich geschädigt werden muß, dann ist was falsch am System.
Aber ich fürchte dir erklären zu müssen, dass es dabei gar nicht um Ethik geht. Es ist im Weitesten ein Kulturkampf - also geht es um Deutung und Herrschaft. Das ist schon eine ganz andere Kategorie. Falls das Zielobjekt unter der Belastung dann in Stress gerät und ethische Grundsätze verletzt, ist das nur zu erwrten. Vorwerfen kann man es ihm dann trotzdem und es ist bestes Argument vor dritten, um den Kuklturkampfgegner nachhaltig zu diskreditieren. Dabei ist es vom Angreifer im Kulturkampf erst ausgelöst worden.
Man setzt also jemanden stark unter Stress, der daraufhin seine Haltung und Fassung verliert und lässt ihn dann von Dritten aburteilen.
So werden wir verarsacht. Schöne neue Welt...