Von der Poesie gelernt

Die Buchmacher Der italienische Marxist „Bifo“ Beradi erklärt, warum Arthur Rimbaud der Wegbereiter Richard Nixons und des Finanzwesens von heute war
Ausgabe 30/2015

Selbst „Deregulierung“, der Kampfbegriff des Neoliberalismus, ist aus der Kunst in den Kapitalismus gewandert. Es war der französische Dichter Arthur Rimbaud, der 1871 ein „Dérèglement de sens et des mots“ forderte, und damit „die spirituelle Skyline der spätmodernen Poesie“ schuf. So erinnert es der italienische Marxist Franco „Bifo“ Berardi in seiner Studie Der Aufstand. Sie entstand 2011 und ist nun auf Deutsch erschienen.

Sprachlos ist bei ihm nicht nur derjenige, der gerade auf seinen überzogenen Dispo blickt. Sprachlos ist ganz Europa, weil sich hier alle in einer Semi-Inflation befinden, was heißt: Für immer mehr Wörter gibt es immer weniger Inhalt zu kaufen. Nicht nur die Gedichte Rimbauds und die Wirtschaft des Euroraums sind dereguliert, sondern quasi alle Bereiche des modernen Lebens. In jedem Winkel warten kleine Kriegsmaschinen, die den Wettbewerb sichern. Wie konnte es so weit kommen? Was führte zu Wirtschaftsdepression und Burn-Out-Epidemie, zu den Revolten von London, Athen, Madrid, zum großen, in einer Spirale der Radikalisierung steckenden „Aufstand“ einer Jugend, die man um ihre Zukunft betrogen hat?

Nach Berardi ist die Begründung einfach: Wort und Referent waren einst aufeinander bezogen wie die erste Goldmünze, deren aufgedruckter Wert exakt dem Wert des Materials entsprach. Wer die erste Goldmünze einschmolz, hatte immer noch den gleichen Wert in der Hand, und wer etwa das Wort Freundschaft aussprach, der konnte sich eines festgesetzten Wertes sicher sein. Dann ging alles relativ schnell den Bach runter. In der Sprache kamen die Symbolisten und trennten das Wort vom Referenten, die Buchstabenfolge „Baum“ sollte plötzlich nicht nur eine Pflanze bezeichnen, sondern unendlich viel mehr. Und 1971, hundert Jahre nach Rimbauds Postulat des Dérèglement, verkündete Richard Nixon die Dereferentialisierung der modernen Ökonomie: „Der Präsident der USA brach die Vereinbarungen von Bretton Woods, als er verkündete, dass der Dollar von nun an in keinerlei Beziehung zur Realität mehr stehen werde; dass sein Wert von nun an nicht mehr durch sein Verhältnis zu einem Standard oder zu einem ökonomischen Referenten bestimmt werde, sondern durch einen Sprachakt.“ War der Wert des Dollars bis dahin abgesichert durch eine real existierende Menge Gold, schwirrten fortan Zahlen ohne echten, in der Realität hinterlegten Wert durch die Körper des hyperbeschleunigten Kapitalismus.

Inzwischen ist die Sprache komplett auf Berechnung umgestellt. Jeder Begriff lässt sich in die Excel-Tabellen von Wirtschaftsberatern, Ratingagenturen und Zentralbankern einpflegen, auch der Begriff der Freundschaft (siehe der Freitag Nr. 26/2015).

Berardi empfiehlt hierzu, The Social Network von Fightclub-Regisseur David Fincher anzusehen. Denn der Film zeige mehr als die ersten Jahre der Firma Facebook. Gründer Mark Zuckerberg werde anhand seiner Beziehungen zu Frauen und Kollegen als Verlierer erkennbar, unfähig zu wahrer Freundschaft: „Existenzielle Unzufriedenheit und kommerzieller Erfolg sind zwei Seiten derselben Medaille: Geschickt analysiert Fincher die psychologischen Bedürfnisse von Zuckerbergs Generation, indem er seine intime Seelenlandschaft als Einsamkeit und affektive Frustration zeichnet.“ Freundschaft als Protokoll. Zuneigung als Klick. Wer hätte vor hundert Jahren gedacht, dass sich damit mehr als 220 Milliarden Börsenwert schaffen lassen?

Der Aufstand. Über Poesie und Finanzwesen Franco „Bifo“ Berardi Kevin Vennemann (Übers.) Matthes & Seitz 2015, 187 S., 22,90 €

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Geschrieben von

Jan Drees

"When there's nothing left to burn – you have to set yourself on fire!"Literatur, Gesellschaft, Pop: Von Aebelard bis Stefan Zweig

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