Ein paar Wochen sind vergangen seit dem europäischen Erdbeben namens Brexit. Dieser wahnsinnige Sprung ins Ungewisse hat Großbritannien zumindest vorübergehend ins politische und wirtschaftliche Chaos gestürzt.
Schon seit über zwei Jahren beschäftigt auch die Schweiz ein solcher Erdbeben-Entscheid: Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative der SVP.
Beide Volksentscheide haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Zukunft in wirtschaftlicher, politischer aber auch gesellschaftlicher Hinsicht. Und beide haben wichtige Fragen darüber aufgeworfen, wie eine moderne, gerechte Demokratie funktionieren soll und darf.
Auf der einen Seite wittern allerorten Populisten Morgenluft und rufen lautstark nach mehr Volksabstimmungen - das Volk hat immer Recht, der Bürger ist mündig (oder manipulierbar), nicht «die da oben» sollen über die Köpfe derer «da unten» hinwegbestimmen.
Auf der anderen Seite stehen die Enttäuschten, Erschrockenen, die sich vor einer Diktatur der Mehrheit fürchten. Die es dem einfachen Bürger nicht zutrauen, den «richtigen» Entscheid zu treffen und die das Aufkommen dunkler, diktatorischer Zeiten am Horizont sehen. Soll also der Bürger mitbestimmen dürfen? Und wenn ja, wie und wie oft?
Ich bin in einem Land aufgewachsen, wo demokratische Mitbestimmung als allerhöchstes Gut gefeiert wird - und ich möchte es nicht missen. In der Schweiz ist es möglich, seine Stimme dazu abzugeben, ob im Dorf ein neuer Sportplatz, ein Schwimmbad oder eine Straße gebaut werden soll oder nicht. Oder wie hoch oder tief der Steuersatz sein soll. Die Konsequenz: der einzelne Bürger fühlt sich ernstgenommen, beteiligt am Geschehen und mitverantwortlich. Der Staat erfüllt seinen ursprünglichen Zweck, für die Bürger da zu sein und deren Interessen bei seinen Entscheiden ins Zentrum zu stellen. Mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung - dagegen kann also kein vernünftiger Mensch sein?
So einfach ist es leider nicht. Denn ich bin auch in einem Land aufgewachsen, wo die Bürger eines Dorfs - in diesem Fall Bubendorf, wo ich aufgewachsen bin - es schaffen können, die Gemeinschaft derart aufzuwiegeln, dass sie einer kosovarischen Familie den Schweizer Pass verwehrt, weil sie in der Öffentlichkeit in Trainerhosen gesichtet worden sein soll. Die Familie ist 2005 in das Dorf gekommen, hat zunächst Kirchenasyl und im Jahr darauf eine Aufenthaltsbewilligung bekommen. Oder landesweit wird der Bau von Minaretten verboten, weil bereits ganze vier im Land verteilt stehen und das zu viel sein soll.
So werden Scheinprobleme mit Scheinlösungen vermeintlich gelöst.
Wie viel Mitbestimmung ist also gut für eine Gemeinschaft? Wie groß die Gefahr, dass diese missbraucht wird? Entscheidend ist bei Betrachtung dieser Beispiele nicht das «ob», sondern das «wie» dieser Bürgerbeteiligung.
Beispiel Brexit: Das Referendum wurde von Premier Cameron aus wahltaktischen (lies machtpolitischen) Gründen angesetzt und nicht per Unterschriftensammlung erwirkt. Das Resultat der Abstimmung ist eine unverbindliche und implizite Aussage der Bevölkerung. Dies erlaubt es den Politikern, unverbindlich und willkürlich mit dem Resultat umzugehen (sofort umsetzen, in drei Monaten umsetzen, vielleicht gar nicht umsetzen, teilweise vielleicht ein bisschen aus der EU austreten, etc.).
Beispiel Schweiz: Die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative sorgt seit über zwei Jahren für Kopfzerbrechen. Sie fordert etwas ein, das an anderer Stelle der Verfassung widerspricht. Die Konsequenz: ewige Diskussionen, Unsicherheit, großes Empörungsbewirtschaftungspotenzial und am Ende wohl eine weitere Abstimmung.
Oder nochmal das Beispiel Einbürgerung: Soll wirklich eine Scheindebatte über Trainerhosen dafür missbraucht werden können, um Einbürgerungen zu verhindern? Genau solche Beispiele sind es, die am bürgernahen System der direkten Demokratie erhebliche und absolut berechtigte Zweifel aufkommen lassen.
Was also könnten Lösungsansätze sein für diese problematischen Aspekte direkter Demokratie? Total absurd und wohl nichts als eine reine Provokation ist wohl der Vorschlag von der rechten Seite des politischen Spektrums, das Dreiklassenwahlrecht wieder einzuführen. Denn genau das Gegenteil von einer Gewichtung nach Einkommen ist doch schlussendlich der Kerngedanke einer Demokratie (ganz abgesehen davon, dass Menschen mit mehr Geld automatisch schon mehr Mittel zur Verfügung haben, um politische Prozesse zu beeinflussen.
Nicht minder absurd ist indes der Vorschlag von der linken Seite, jungen Menschen mehr Stimmkraft zu verleihen als älteren Menschen, weil diese länger mit den Konsequenzen einer Abstimmung leben müssten. Auch dieses System würde mehr neue Probleme schaffen, als es lösen würde.
Vielmehr wären saubere «checks and balances» angebracht: Im Falle der verwehrten Einbürgerung ein Rekursrecht am Gericht. Oder radikaler: Nicht mehr die Bürger, sondern die Gemeindevertreter über Einbürgerungen entscheiden zu lassen - dies wird im Nachgang der Trainerhosenmisere zurzeit diskutiert.
Auf nationaler Ebene ist in der Schweiz das Bundesgericht ein wirksames Korrektiv, wenn auch eines, das rechte politische Kräfte zurückbinden wollen.
Und in Großbritannien? Vielleicht wäre es da vonnöten, Volksbefragungen zu institutionalisieren und unter klaren Bedingungen abzuhalten, anstatt sie willkürlich von oben herab anzusetzen - oder sie gleich ganz wegzulassen.
Kommentare 10
Ich denke , dass die politische Instanz , die ein Referendum durchführt auch in der Pflicht steht eine vielseitige Information zum Thema zu liefern und nicht nur einen Stimmzettel. Da wären öffentlich Gelder besser investiert als in vielen anderen Bereichen, nämlich in die Entscheidungfähigkeit und die informierte Verantwortlichkeit der Stimmberechtigten.
Nun wird jeder sagen , es gibt ja keine neutrale Position, egal zu welcher Frage. Genau, aber es gibt relevante Information und irrelavante, es gibt Pseudo-Probleme und wirkliche. Würde in der Vorbereitung eines Referendums die Gemeinschaft der Stimmberechtigten im Auftrag und mit der Unterstützung der Institution , die die Befrageung durchtzuführen hat, dazu verpflichtet diesen Informationskatalog selber zu erstellen, und würde jeder Stimmberechtigte , diesen mit seiner Stimme dann sozusagen "unterschreiben", wäre ein entscheidender Schritt für die kollektiven Dynamik politischer Entscheiungsfindung gemacht.
>>Ich denke , dass die politische Instanz , die ein Referendum durchführt auch in der Pflicht steht eine vielseitige Information zum Thema zu liefern und nicht nur einen Stimmzettel.<<
Das denke ich auch. Informationsblockaden sind kein Argument für die Diktatur.
Genau solche Beispiele sind es, die am bürgernahen System der direkten Demokratie erhebliche und absolut berechtigte Zweifel aufkommen lassen.
Letztendlich bleibt die moralische Überzeugung des Autors, der hier für eine bestimmte Familie, dort für Minarette, anderswo gegen den Brexit ist. Für all das mag er seine Gründe haben, wo der Zusammenhang mit den Vor-/Nachteilen der direkten Demokratie sein soll, warum der Gemeindevertreter eine bessere Entscheidung träfe als der Bürger, dsa alles, erschließt sich nicht.
Aber sorgen braucht er sich nicht, mit Journalisten wie ihm und Politikern wei Lammert gibt es in 10 Jahren kein Referendum mehr. Juhu!
Korrektur letzter Absatz: mit Artikeln wie diesen…
Es spielt keine Rolle wie Demokratie ausgestaltet wird. Der Erfolg steht und fällt mit der Bildung und Ausbildung der Menschen zum Demokraten. Ein Staat, der sein Budget für Bildung relativ klein hält hat auch kein Interesse an Demokratie könnte man meinen ;-)
http://www.jjahnke.net/index_files/13004.gif
Und dann ist noch die Frage, wie das Schulsystem ausgestaltet ist, wo die Schwerpunkte der Bildung liegen.
Mal abgesehen von den zusätzlichen vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Bildungsmöglichkeiten über Medien etc.
http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/174624/bildung-und-demokratie
Das uralte Dilemma. Wie schützt man das Volk gegen sich selbst? Nun ja, das schweizer Staatswesen scheint zumindest von außen betrachtet recht gut zu funktionieren. Was den Brexit angeht, wundere ich mich darüber, dass es so viele wundert, dass die Volksabstimmung so ausgegangen ist, wie sie ist. Seit Jahrzehnten wettert die politische Kaste des Vereinigten Königreichs gegen die EU. Nun fährt sie die Ernte ein, die sie gesät hat.
Dabei ist die Lösung so einfach: Eine sorgfältig ausgearbeitete Verfassung mit direkter Demokratie, die sich nur relativ zu dieser Verfassung bewegen darf, überwacht von Verfassungsgerichten auf allen Ebenen. Sprich, Vorlksabstimmungen wie bisher, aber unter deutlichstem Verweis darauf, dass in diesen Abstimmungen nichts entschieden werden kann, was der Verfassung widerspricht, weder als Thema der Abstimmung und schon gar nicht als Ergebnis. Und für Verfassungsänderungen etwas in der Art von erforderlichen Dreiviertel-Mehrheiten. Bei einer Dreiviertelmehrheit für die Wiedereinführung der Todesstrafe hat das Land nichts besseres verdient als zu bekommen, was es will.
fisch jut
Ob Referendum oder einfache Wahlwerbung, bereits die Argumente und Fragen sind in aller Regel manipulativ.
Nehmen wir als Beispiel das Arbeitszeugnis, dessen Formulierung weitgehend festgelegt ist und von (unwissenden) Arbeitnehmern besser gelesen wird, als der Inhalt meint.
Gleiches funktioniert bei einem Referendum genau so. Nehmen wir aus aktuellem Anlass den BrExit, dann gab es zwei Positionen, Stay oder Leave.
Die Leave.Wähler hatten den Plan A: Brexit!
Die Stay.Wähler hatten den Plan A: Alles bleibt, wie es ist;
und den Plan B: BrExit!
Über irgendwelche Konsequenzen hatte sich vor diesem Referendum niemand wirklich Gedanken gemacht.
Ich halte den BrExit für einen Schritt mit Verfassungsrang, weil letztlich der Zusammenhalt von GB beendet werden kann. Schottland denkt offen über eine Abspaltung vom BrExit nach und für Nordirland ist das ein Dilemma, weil Befürworter und Gegner genau die alten Feindschaften bedienen wird.
Nun hat GB keine Verfassung, sondern ein germanisches Gewohnheitsrecht, der BrExit wird darum neue Erfahrungen bringen.
Ach ja, sehr lustig: Karl Lagerfeld sagt, wer in "Jogginghosen" (aka Trainerhosen) in die Öffentlichkeit geht, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Kann man solche Leute "einbürgern", die keine Kontrolle über ihr Leben mehr haben?
Und zum Thema:
Ich finde da nichts missverständlich oder unpräzise, sodass man annehmen kann, dass etwa das Brexit-Votum für die Politik nicht bindend sei. Die Frage war eindeutig, die Antwort (in Form der Abstimmung) ist es demnach auch. Was also kann man da noch falsch verstehen?
Und es geht mit Sicherheit nicht um Detailfragen (wie denn etwa die Umsetzung der Abstimmung aussehen soll), weil diese nicht abgefragt waren. Wenn abgestimmt wird, dann muß uneingeschränkt umgesetzt werden. Alles Andere wäre wahrhaft antidemokratisch.
ich habe jüngst auch durch die Aussagen Oettingers zum CETA-Abkommen die Befürchtung, man nimmt derzeit gerade das Ideal der Demokratie ins Visier - um es abzusschaffen. Um es dem Volk unsymphatisch zu machen. Unterm Strich wird also Demokratie abgebaut. Noch schlimmer ist es, wenn man diese ganze STrategie dann auch noch als "stärkung der Demokratie" erklärt... da wird es dann gleich völlig absurd.
Die Aussage im Text:
"Das Resultat der Abstimmung ist eine unverbindliche und implizite Aussage der Bevölkerung."
-> Da ist nichts "unverbindlich". Wie kann jemand solcher Meinung sein? Doch nur, wenn dieser jemand dieses Volk nicht ernst nimmt! Und damit dieses Ideal von Demokratie ablehnt.
Die einzige und richtige Folge des Referendums ist der Austritt Groß Britaniens aus der EU. Da gibt es keinen Spielraum und nichts zu interpretieren.
Es sei denn....
... man kritisiert die demokratische Methode und erklärt etwa, das derart knappe Entscheidungen bei Abstimmungen kaum dem demokratischen Ideal entsprechen. Denn es stehen ja wie beim Brexit-Votum nun 49 zu 51 Prozent der Bevökerung gegenüber und 49 % der Bevölkerung sind eine hinreichende Größe, um deren Interessen zu schützen / nicht zu ignorieren.
Ich wäre ja froh darüber, wenn man sich tatsächlich über diese Art Demokratie Gedanken machte. Aber das hat wieder großen Einfluß auf die ganze derzeit praktizierte / gelebte Demokratie. Da könnte sich dann vieles verändern - und das ist dann auch wieder nicht recht - nehme ich mal an.