Direkte Diktatur?

Direkte Demokratie Die Welt scheint aus den Fugen. Die Menschen in Europa stimmen ab, und man fragt sich warum sie so stimmen wie sie stimmen.

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Nach dem Brexit wurde einmal mehr über Sinn und Unsinn direkter Demokratie debattiert
Nach dem Brexit wurde einmal mehr über Sinn und Unsinn direkter Demokratie debattiert

SCOTT HEPPELL/AFP/Getty Images

Ein paar Wochen sind vergangen seit dem europäischen Erdbeben namens Brexit. Dieser wahnsinnige Sprung ins Ungewisse hat Großbritannien zumindest vorübergehend ins politische und wirtschaftliche Chaos gestürzt.

Schon seit über zwei Jahren beschäftigt auch die Schweiz ein solcher Erdbeben-Entscheid: Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative der SVP.

Beide Volksentscheide haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Zukunft in wirtschaftlicher, politischer aber auch gesellschaftlicher Hinsicht. Und beide haben wichtige Fragen darüber aufgeworfen, wie eine moderne, gerechte Demokratie funktionieren soll und darf.

Auf der einen Seite wittern allerorten Populisten Morgenluft und rufen lautstark nach mehr Volksabstimmungen - das Volk hat immer Recht, der Bürger ist mündig (oder manipulierbar), nicht «die da oben» sollen über die Köpfe derer «da unten» hinwegbestimmen.

Auf der anderen Seite stehen die Enttäuschten, Erschrockenen, die sich vor einer Diktatur der Mehrheit fürchten. Die es dem einfachen Bürger nicht zutrauen, den «richtigen» Entscheid zu treffen und die das Aufkommen dunkler, diktatorischer Zeiten am Horizont sehen. Soll also der Bürger mitbestimmen dürfen? Und wenn ja, wie und wie oft?

Ich bin in einem Land aufgewachsen, wo demokratische Mitbestimmung als allerhöchstes Gut gefeiert wird - und ich möchte es nicht missen. In der Schweiz ist es möglich, seine Stimme dazu abzugeben, ob im Dorf ein neuer Sportplatz, ein Schwimmbad oder eine Straße gebaut werden soll oder nicht. Oder wie hoch oder tief der Steuersatz sein soll. Die Konsequenz: der einzelne Bürger fühlt sich ernstgenommen, beteiligt am Geschehen und mitverantwortlich. Der Staat erfüllt seinen ursprünglichen Zweck, für die Bürger da zu sein und deren Interessen bei seinen Entscheiden ins Zentrum zu stellen. Mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung - dagegen kann also kein vernünftiger Mensch sein?

So einfach ist es leider nicht. Denn ich bin auch in einem Land aufgewachsen, wo die Bürger eines Dorfs - in diesem Fall Bubendorf, wo ich aufgewachsen bin - es schaffen können, die Gemeinschaft derart aufzuwiegeln, dass sie einer kosovarischen Familie den Schweizer Pass verwehrt, weil sie in der Öffentlichkeit in Trainerhosen gesichtet worden sein soll. Die Familie ist 2005 in das Dorf gekommen, hat zunächst Kirchenasyl und im Jahr darauf eine Aufenthaltsbewilligung bekommen. Oder landesweit wird der Bau von Minaretten verboten, weil bereits ganze vier im Land verteilt stehen und das zu viel sein soll.

So werden Scheinprobleme mit Scheinlösungen vermeintlich gelöst.

Wie viel Mitbestimmung ist also gut für eine Gemeinschaft? Wie groß die Gefahr, dass diese missbraucht wird? Entscheidend ist bei Betrachtung dieser Beispiele nicht das «ob», sondern das «wie» dieser Bürgerbeteiligung.

Beispiel Brexit: Das Referendum wurde von Premier Cameron aus wahltaktischen (lies machtpolitischen) Gründen angesetzt und nicht per Unterschriftensammlung erwirkt. Das Resultat der Abstimmung ist eine unverbindliche und implizite Aussage der Bevölkerung. Dies erlaubt es den Politikern, unverbindlich und willkürlich mit dem Resultat umzugehen (sofort umsetzen, in drei Monaten umsetzen, vielleicht gar nicht umsetzen, teilweise vielleicht ein bisschen aus der EU austreten, etc.).

Beispiel Schweiz: Die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative sorgt seit über zwei Jahren für Kopfzerbrechen. Sie fordert etwas ein, das an anderer Stelle der Verfassung widerspricht. Die Konsequenz: ewige Diskussionen, Unsicherheit, großes Empörungsbewirtschaftungspotenzial und am Ende wohl eine weitere Abstimmung.

Oder nochmal das Beispiel Einbürgerung: Soll wirklich eine Scheindebatte über Trainerhosen dafür missbraucht werden können, um Einbürgerungen zu verhindern? Genau solche Beispiele sind es, die am bürgernahen System der direkten Demokratie erhebliche und absolut berechtigte Zweifel aufkommen lassen.

Was also könnten Lösungsansätze sein für diese problematischen Aspekte direkter Demokratie? Total absurd und wohl nichts als eine reine Provokation ist wohl der Vorschlag von der rechten Seite des politischen Spektrums, das Dreiklassenwahlrecht wieder einzuführen. Denn genau das Gegenteil von einer Gewichtung nach Einkommen ist doch schlussendlich der Kerngedanke einer Demokratie (ganz abgesehen davon, dass Menschen mit mehr Geld automatisch schon mehr Mittel zur Verfügung haben, um politische Prozesse zu beeinflussen.

Nicht minder absurd ist indes der Vorschlag von der linken Seite, jungen Menschen mehr Stimmkraft zu verleihen als älteren Menschen, weil diese länger mit den Konsequenzen einer Abstimmung leben müssten. Auch dieses System würde mehr neue Probleme schaffen, als es lösen würde.

Vielmehr wären saubere «checks and balances» angebracht: Im Falle der verwehrten Einbürgerung ein Rekursrecht am Gericht. Oder radikaler: Nicht mehr die Bürger, sondern die Gemeindevertreter über Einbürgerungen entscheiden zu lassen - dies wird im Nachgang der Trainerhosenmisere zurzeit diskutiert.

Auf nationaler Ebene ist in der Schweiz das Bundesgericht ein wirksames Korrektiv, wenn auch eines, das rechte politische Kräfte zurückbinden wollen.

Und in Großbritannien? Vielleicht wäre es da vonnöten, Volksbefragungen zu institutionalisieren und unter klaren Bedingungen abzuhalten, anstatt sie willkürlich von oben herab anzusetzen - oder sie gleich ganz wegzulassen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Krattiger

Journalist aus der Schweiz, jetzt Freier Autor in München.

Jan Krattiger

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