Ein bebendes Buch

Literatur Der junge Wiener Philipp Weiss hat mit seinem Debüt alle Dimensionen gesprengt
Ausgabe 42/2018

Philipp Weiss’ Debüt Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen hatte für Raunen im Literaturbetrieb gesorgt. Daran haben neben Ehrungen wie dem renommierten Jürgen-Ponto-Preis sicher auch der gewaltige Umfang und das sehr eigensinnige Konzept Anteil: fünf Bände, über tausend Seiten, keine festgelegte Reihenfolge, nur mehr oder minder leichte Zugänge (zu einzelnen Teilen). Es geht wohl darum, die Menschheit und die Welt als Ganzes zu begreifen, begreift man beim Lesen, einer Welt, in der jeder für sich herumirrt, auf der Suche nach Ordnung, Sinn, Schönheit. Man kann parallel mal hier, mal da lesen und ähnlich durch die Seiten mäandern, wie die Figuren es tun.

„Die Landschaft verändert sich durch den Wanderer. Das Buch verändert sich durch den Leser“, heißt es einmal. Zur Programmatik gehört auch das Spiel mit Autorschaft, nur auf dem Schuber findet sich Weiss’ Name. Die fünf Bände sind mit den Namen der Figuren versehen, die darin als Ich-Erzähler, als ihre eigenen Biografen auftreten. Sie alle haben spezifische Stimmen, erzählen auf ihre Weise. Das ist nicht bloß Stilübung, vielmehr verweist der Mosaik-Charakter dieser Prosa darauf, worum es inhaltlich geht: um eine fragmentierte Welt.

Enzyklopädien eines Ichs

„Terrain vague“, so heißt einer der Bände. Das könnte auch sinnbildlich für den ganzen Romankomplex stehen. Autor, Leser, Buch – Der 1982 in Wien geborene Weiss rückt von etablierten Kategorien ab, er beobachtet diese seltsame Welt mit Interesse und auch mit Befremden. Dabei greift er auf einen bunten Fundus an Referenzen zurück. Da wird Hamlet oder Frankenstein zitiert, auf Edgar Allan Poe, Walter Benjamin und Pokémon verwiesen. Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen ist keinesfalls im Vakuum entstanden, sondern ganz bewusst ein Erzeugnis der Literatur und der Ideengeschichte der letzten Jahrhunderte.

Geografische und historische Fixpunkte sind etwa das Frankreich zur Zeit der Pariser Kommune und das von den Ereignissen in Fukushima zerrüttete Japan. Abra Aoki ist eine Japanerin, der ein Arm und ein Bein amputiert wurden. Ihre Geschichte wurde von der Illustratorin Raffaela Schöbitz als Graphic Novel umgesetzt. Lose werden darin Mensch-Maschine-Diskurse aufgegriffen, die man aus Cyborg-Mangas wie Ghost in the Shell zu kennen glaubt, es tauchen Automatenpuppen auf und ein mechanisches Herz. Die einsame Abra imaginiert ein Theater, in dem der Puppenspieler wiederum eine Puppe ist.

Dann ist da noch der Künstler Jona Jonas, der sich in Japan zunächst auf die Suche nach seiner Geliebten Chantal Blanchard macht. Diese hat wiederum ihren eigenen Band im Romangefüge. Die Klimawissenschaftlerin befindet sich, wie der Gegenstand ihrer Forschung, an einem Kipppunkt. Das merkt man auch dem Text an, eine Collage aus Chantals Gedanken – mal so klar, dass sie wie Aphorismen wirken, mal verschlüsselt und verrätselt.

Sie alle verbindet das Gefühl der Dissoziation. Chantals Spuren verlieren sich in Japan, wo Jona sie aufspüren will. Als er dort ist, ereignet sich das Tōhoku-Erdbeben, in dessen Folge es zum Reaktorunglück von Fukushima kommt. Er findet Chantal nicht – stattdessen kümmert er sich um Satoshi, eines der Strahlenopfer: „Satoshi lacht unbeschwert. Sein Zahnfleisch blutet.“ Ein drastischstes Beispiel aus der vom Menschen geprägten Epoche, dem Erdzeitalter, das man „Anthropozän“ nennt. Unmittelbar von dem Unglück betroffen ist auch der neunjährige Akio Itō, der seine Erlebnisse mit einem Diktiergerät aufzeichnet. Dann ist da noch Paulette Blanchard, eine Vorfahrin Chantals, die im ausgehenden 19. Jahrhundert die „Enzyklopädien eines Ichs“ verfasst. Paulette lebt zu einer Zeit, in der alles in Bewegung scheint: Sie erlebt die Pariser Kommune, reist nach Wien zur Weltausstellung. Auch sie landet in Japan, das sich nach jahrhundertelanger Isolation eben erst geöffnet hat. So wird Paulette Zeugin mächtiger Umwälzungen, von der Rätedemokratie zur Meiji-Restauration. Sie beschreibt die Euphorie beim Anblick von Diderots und d’Alemberts Encyclopédie aus der Zeit der Aufklärung – für Paulette nichts weniger als „Folianten, die die Welt enthalten“. Dieser Bezeichnung kam danach wohl selten ein Roman so nah wie Philipp Weiss’ alle Dimensionen sprengendes Debüt.

Info

Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen Philipp Weiss Suhrkamp 2018, 1064 S., 48 €

Jetzt schnell sein!

der Freitag digital im Probeabo - für kurze Zeit nur € 2 für 2 Monate!

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden