"Die Situation in Russland ist eine Havarie"

Krimkrise "Privat ein Russe, beruflich ein deutscher Schriftsteller", so beschreibt sich Wladimir Kaminer selbst. Ein Gespräch über die Krim-Krise, Russland und Wladimir Putin.

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Foto: Katja Hentschel

Herr Kaminer, in einem Artikel in der Jüdischen Allgemeinen betonten Sie, dass Russland nicht Putin sei. Weshalb diese Klarstellung? Denken Sie, dass ein verzerrtes Bild Russlands durch die Medien erzeugt wird?

Nein, denke ich nicht. Russland hat in der Krim quasi eine neue Berliner Mauer aufgerichtet und sich von der Welt abgeschottet. Doch viele Künstler und Autoren wenden sich offen und auf verschiedenen Wegen gegen Putin. Ich habe mich gefreut, dass etwa 70.000 Menschen gegen den Krieg und für das Brudervolk Ukraine demonstrierten. Die staatliche Propaganda in den russischen Medien ist eine sehr starke Waffe und ich glaube, dass der aktuelle Nationalismus und diese Gewalt sich nicht von alleine legen werden. Manche russischen Medien berichteten ja zum Beispiel, dass Russland bereit wäre, Amerika in Schutt und Asche zu legen - so etwas bleibt natürlich in den Köpfen der Leute hängen! Ich glaube aber nicht, dass diese Aggressionen tatsächlich zu einem Krieg oder kalten Krieg mit den USA oder Europa führen werden. Stattdessen wird die ganze aufgebaute Aggression zurück ins Innere des Landes gehen und das russische Volk überschwemmen. In Russland herrscht derzeit eine sehr nach Schwefel und Rauch riechende Atmosphäre, es ist ekelhaft.

Wie erklären Sie sich Putins politischen Erfolg?
Lassen Sie mich mit einer Gegenfrage antworten: Wie erklärt sich denn Kim Jong-unspolitischer Erfolg? Russland ist kein demokratisches Land, Putin hat sich im Kreml festgesetzt und wird ihn freiwillig auch nicht mehr verlassen. Die Volksmeinung ist ihm egal und hat auch keine Auswirkungen auf seine politische Position. Das russische Volk ist quasi seine Geisel und hat nur zwei Möglichkeiten: Ihm zuzujubeln oder zuhause zu sitzen und mit den Zähnen zu knirschen. Die leichtere Variante ist es natürlich, ihm zu folgen und ihm zuzujubeln.
Die Russen haben schon seit über hundert Jahren diese Geisteshaltung gegenüber der staatlichen Obrigkeit: Alle schauen nach oben und wollen Anweisungen erhalten. Es ist eine ekelhafte Situation. Die Ukraine wird langfristig zu einem modernen europäischen Staat, doch um das russische Volk mache ich mir wirklich Sorgen. Die Revolution in der Ukraine war für den Kreml gerade deshalb so besorgniserregend, weil die russische Bevölkerung ja etwas davon hätte lernen können. Und der Kreml hat Angst vor der Naturgewalt der Bevölkerung. Ich glaube, dass deshalb auch die Panzer über die Grenzen rollten, um ein Aufbegehren des russischen Volkes zu verhindern.

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Foto: Katja Hentschel

Glauben Sie, dass die us-amerikanische und deutsche Politik angemessen auf die Situation reagiert haben?
Die globale Politik hat vernünftig reagiert, sich klar positioniert und deutliche Signale gesetzt. Das aktuelle Russland kann kein gleichgeordneter Partner auf dem internationalen Parkett sein, man kann mit ihm auf politischer Ebene nicht kooperieren. Irgendwann wird dies auch in der russischen allgemeinen Bevölkerung ankommen, das Propagandafernsehen durchbrechen und letztlich werden die Leute dann realisieren: "Hier stimmt etwas nicht."
Die Geschichte hat keinen Rückwärtsgang: Russland hat nie seine Vergangenheit aufgearbeitet, Stalin wird immer noch wie ein Held gefeiert, Lenin liegt ruhig in seinem Mausoleum. Die Ukraine, Krim und Russland haben alle dieselbe sowjetische Vergangenheit, doch während sich die ukrainische Bevölkerung für einen Schritt in die Zukunft entschieden hat, haben die Menschen in der Krim sich nun für einen Schritt in die Vergangenheit entschieden. Wieso gibt es diese Unterschiede? Ich vermute, dass es daran liegt, dass die Ukraine später von der Sowjetunion verschluckt wurde und sich diese obrigkeitsgläubige Geisteshaltung nicht so verankert hat.

Glauben Sie, dass Putin das Kernproblem ist?
Putin ist nicht das Kernproblem, sondern es ist die Geisteshaltung der Bevölkerung: Sie schauen nach oben in der Erwartung, dass alles für sie gemacht und am Ende schön würde. Doch alles, was bisher von oben kam, waren nur Betonplatten.
Allerdings hat sich, vor allem in den letzten zwanzig Jahren, eine ganz neue Schicht in Russland entwickelt. Diese Schicht hat keine Angst davor, auf die Straßen zu gehen, um zu demonstrieren – so etwas gab es in dieser Form noch nie! Früher wurden Demonstranten einfach weggesperrt, in Psychiatrien gesteckt und nur wenige haben sich getraut, etwas gegen die Regierung zu sagen. Jetzt gibt es tausende Menschen in Russland, welche sich klar gegen Putin positionieren.
Pussy Riot und andere kritische Menschen müssen unterstützt werden. Nur so kann man die staatliche Propaganda bekämpfen: Durch direkten Kontakt mit anderen Menschen. Ich kenne sehr viele Leute, die Ärger mit der Regierung haben. Jüngere Leute verlassen sich weniger auf die öffentlichen Darstellungen, sondern informieren sich unabhängig im Internet. So ist auch die Friedensdemo in Moskau zu Stande gekommen.

Wie stehen Sie zu dem Ergebnis des Referendums auf der Krim?
Die Abstimmung war nicht demokratisch: Wenn überall Panzer und Soldaten herumstehen, dann ist doch gar keine demokratische Entscheidung möglich. Jedoch glaube ich schon, dass die Mehrheit tatsächlich Teil Russlands werden wollte. Dies liegt an der pro-sowjetischen Ausrichtung dieser Menschen, welche immer noch in der Vergangenheit leben.

Nikolai Klimeniouk vermutete in einem Beitrag in der FAZ, dass als nächstes Ziel eines der baltischen Länder, vermutlich Lettland, an der Reihe wäre. Halten Sie dies für realistisch?
Nein, ich glaube, dass dies eine Übertreibung ist. Obwohl: Andererseits steuert Putin tatsächlich in Richtung eines fatalistischen Militarismus. Aber ich glaube, dass die Gewalt sich mehr nach Innen gegen die russische Bevölkerung richten wird.

Klimeniouk schrieb in demselben Beitrag "Ihr im Westen versucht, hinter Putins Handeln eine Strategie zu entdecken. Ihr fragt euch, was sein legitimes Interesse sein könnte. Wir Russen wissen, dass da der blanke Wahnsinn am Werk ist." Der Beitrag hatte den Titel "Putin ist verrückt". Teilen Sie diese Auffassung?
Es kommt auf den Standpunkt des Betrachters an: Aus Sicht eines modernen, westlichen Menschen, der in einer offenen, aufgeklärten Welt lebt, ist die Antwort klar: Ja, Putin ist verrückt. Aber Putin ist in einem anderem System groß geworden. Er ist in der Sowjetunion sozialisiert worden, hat eine Ausbildung in der KGB genossen und hat daher eine ganz eigene Sicht auf die Welt. Er sieht überall Spione und Verschwörungen, weil er selbst Spion war. Er denkt, dass die Welt so handeln würde, wie er es jetzt tut und spricht dabei im Namen einer Kultur, die nicht mehr vorhanden ist - sie ist eine Wahnvorstellung! Doch aus der Sicht eines homo sovieticus ist er nicht verrückt, sondern ganz normal. Die Situation in Russland ist eine Havarie, eine Katastrophe.

Vielen Dank für das Gespräch.

Wladimir Wiktorowitsch Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin Prenzlauer Berg. Einem größeren Publikum wurde er durch seinen Erzählband Russendisko bekannt, welcher dem gleichnamigen Film des Regisseur Oliver Ziegenbalg als Vorlage diente.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Rebuschat

Geboren 1982, zweifacher Familienvater. Volljurist, seit 2011 journalistisch tätig.

Jan Rebuschat

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