Die dauernde Revolution, oder: Kurzer Blick in die französische Seele

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Es ist eine sehr wirkungsvolle Methode, die die französischen Gewerkschaften gefunden haben, ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen: Die Bestreikung der Erdölraffinerien und die Blockade der Notlager führt zu einer mehr und mehr spürbaren Verknappung des Benzins. Wenn es so weiter geht, steht Frankreich einfach still. Ein ungewohntes Gefühl: Vor gesperrten Tankstellen zu stehen und sich auf die Suche nach Nachschub zu begeben. Im Westen Frankreich, wo sich der Autor zur Zeit aufhält, wird es langsam echt eng mit dem Sprit. Verspäteter Gedanke: Besser ein sparsames Auto gekauft. Aber immerhin brauchen wir kein Diesel. Den gibt es hier nämlich gar nicht mehr.
Also: Das Benzin wird knapp. Die Laune der Leute bleibt dagegen gut. Die Rentenreform genießt hier keine ohne weiteres feststellbare Popularität. Auch die Aussicht, die morgen beginnenden Ferien ohne Treibstoff zu begehen, nimmt den Franzosen offenbar nicht die Solidarität mit den Streikenden.
Im Paris Match stand derweil ein langer Artikel über Charles Bauer. Das war ein Komplize des französischen Gangsters Jacques Mesrine. Sie erinnern sich: Mesrine war im Frankreich der 70er Jahre der Staatsfeind Nummer 1, ein Bankräuber, ein Mörder - und ein Volksheld. Mesrine wurde von der Polizei im Jahr 1979 mit 19 Kugeln getötet. Sein Kumpan Bauer verbrachte 25 Jahre in Haft. Ein großer, stattlicher Mann mit langen schwarzen Haaren und beeindruckendem Räuberschnurrbart. So wurde er auch wieder entlassen. Und jetzt steht eine lange Geschichte über ihn in dieser Illustrierten, die man sich irgendwo zwischen Gala und Bunte vorstellen muss. Und es ist eine Heldengeschichte. Das Gefängnis hat ihn nicht gebrochen. Er ist ein Verbrecher, sicher, aber einer, dem es um die gute Sache ging. Die Mittel, derer er sich bedient habe, seien verwerflich. Aber die Ziele waren doch gut.
Das ist ein bisschen, als brächte die Bunte ein Rührstück über Gudrun Ensslin. Undenkbar in Deutschland.
Man nimmt solche kulturellen Unterschiede zu wenig wahr.


Nachtrag:
Der politische Streik ist eine mächtige Waffe, um eine Regierung unter Druck zu setzen. Im präsidialen System Frankreichs macht das besonderen Sinn. In Deutschland ist der politische Streik unzulässig. Er ist nicht gesetzlich verboten, da das Streikrecht hierzulande gar nicht gesetzlich geregelt ist, sondern durch die geltende Rechtssprechung. Die lässt aber keinen Zweifel daran: Arbeiter und ihre Repräsentanten sollen sich nicht in die Politik einmischen, sondern sich auf die Arbeitswelt beschränken. Die Tarifautonomie wurde vom Bundesverfassungsgericht zwar unter Schutz gestellt - aber unter dem Vorbehalt, dass sie dem öffentlichen Interesse dient. In diesem kann sie jederzeit eingeschränkt werden.
Ist das fair? Die Antwort hängt davon ab, wie man die Chancengleichheit zwischen der Macht der Wirtschaftslobbies auf der einen und den Mitwirkungsmöglichkeiten organisierter Arbeitnehmerinteressen auf der anderen Seite bewertet. Inwieweit man also der Ansicht ist, dass das parlamentarische System tatsächlich so funktoniert, wie es sollte - und nicht von dem abgelöst ist, was der britische Politikwissenschaftlert Colin Crouch Postdemokratie genannt hat.


Unter Bruch sämtlicher Copyrights stelle ich hier mal einen Kommentar ein, den Klaus Ernst, damals designierter Vorsitzender der Linkspartei im Februar 2010 in der taz geschrieben hat:

"Der politische Streik gehört zu Europas politischer Kultur. Neben Deutschland ist er nur noch in Dänemark und England verboten. Alle drei Länder verstoßen somit gegen die Europäische Sozialrechts-Charta. Was aber in Frankreich, Belgien oder Spanien akzeptiert ist, muss auch in Deutschland möglich sein. Niemand dort käme auf die Idee, dass mit dem politischen Streik die freie Ausübung des Mandats eingeschränkt würde, wie Micha Brumlik dies kürzlich in der taz (vom 2. 2.) befürchtete.
Schon vor über 150 Jahren merkte der liberale Philosoph und Ökonom John Stuart Mill kritisch an, ist "das Volk, welches die Macht ausübt, nicht immer dasselbe Volk wie das, über welches sie ausgeübt wird". Wenn die Rente mit 67, der Krieg in Afghanistan oder die Hartz-Gesetze in Parlamenten gegen eine breite Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt werden, dann könnte der politische Streik im besten Fall als Korrektiv wirken.
Der politische Streik würde eine Art Waffengleichheit herstellen: Dem Druck der Lobbyisten, neoliberaler Kampagnenmacher und Großspender auf Regierungsparteien stünde dann ein wirksamer Gegendruck gegenüber. Wie wichtig das auch für linke Regierungen ist, zeigt dieser Tage ein Blick nach Griechenland.
Fakt aber ist auch: Das Recht auf politischen Streik wird nicht beschlossen, sondern erkämpft. Erst wenn das Beispiel der Arbeiter der Münchner "Süddeutschen Druckerei" Schule macht, die wie Zehntausende ihrer Kollegen 2007 während der Arbeitszeit gegen die Rente ab 67 protestierten, wird der politische Streik auch in Deutschland Normalität. Wenn aber Menschen für ihre Interessen eintreten, dann ist es nicht an wohlbestallten Professoren und Politikern, ihnen dieses Recht abzusprechen."

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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