Die Unvollendete Revolution - 20. Jahrestag

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In Leipzig demonstrieren heute abend wieder Tausende über den Ring, wie vor 20 Jahren, und feiern das Jubiläum der "Friedlichen Revolution" am 9. Oktober, medial bestens begleitet. MDR-Fernsehen und Rundfunk berichten live, nur daß ich diesmal nicht mit dabei bin, ich nicht dabei sein möchte, obgleich ich mich gern an diesen Tag erinnere, einen Tag, der neblig-trübe begann und dennoch glücklich enden sollte ... Ich vermag dieses Jubiläum nicht zu feiern, den Gewinn an Freiheit, die doch ein ausgewogenes Maß an sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit zur Grundbedingung hat, und gleichzeitig darüber hinweg zu sehen, daß es mit dieser Grundbedingung in unserem Land mittlerweile immer schlechter bestellt ist. Wer heute über den Ring marschiert und des Jahrestages gedenkt, müßte also neben der Freude über die Wende in der Geschichte vor 20 Jahren auch Transparente mit sich führen, die beispielsweise die gegenwärtigen Einschränkungen der Bürger- und Freiheitsrechte thematisieren, sei es durch die Vorratsdatenspeicherung, die Erweiterung der BKA- und Verfassungsschutzbefugnisse oder über die restriktive Hartz IV-Gesetzgebung. Nein, da soll nichts gegeneinander aufgerechnet werden, aber wer sich zu DDR-Zeiten am Unrecht gerieben hat, sollte dies auch heute tun, statt zuzulassen, daß dieser Tag von politischen Größen wie Horst Köhler oder Tiefensee und dem sogenannten "bürgerlichen Lager" auch noch für eigene Zwecke politisch instrumentalisiert wird.

Der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, der die Friedensgebete in den 80er Jahren mit initiierte, spricht in diesem Zusammenhang von dem noch ausstehenden Teil der friedlichen Revolution, die eine Wirtschaftsform zum Inhalt habe, die sich nicht ausschließlich am Profit orientiert. Er nennt dies eine "solidarische Ökonomie."

Der Bürgerrechtler und Historiker Thomas Klein, 1979 bis 1980 in der DDR inhaftiert, schreibt: "Im vereinigten Deutschland treffen wir heute auf ein bemerkenswertes Spektrum der Verarbeitung vergangener und gegenwärtiger Zumutungen. Zwei Beispiele: Mehr als einmal haben ehemalige Funktionsträger der SED, die mir früher in der DDR beinhart und drohend als Sachwalter der politischen Reinheit gegenübertraten und die Verwerflichkeit gerade linker Opposition in der DDR begreiflich zu machen versuchten, mich nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik von den Vorzügen der jetzt herrschenden Ordnung überzeugen wollen – und mich vor der Sinnlosigkeit linker Opposition in Deutschland gewarnt. Zu dieser eher komischen Spielart systemübergreifenden Opportunismus' gesellt sich jedoch auch eine vorwiegend deprimierende Variante neudeutscher Friedfertigkeit: Viele »ehemalige Bürgerrechtler« (so lautet heute die Sprachregelung) – in der DDR mutig und unbestechlich gegen die nominalsozialistische Diktatur, für Demokratie und Menschenrechte kämpfend – sehen heute keinen Anlass, etwa die zeitgenössische Entwürdigung der vom Kapital unverwertbaren Arbeitskräfte durch die Hartz–IV-Gesetze wenigstens als Menschenrechtsfrage zu entdecken."

Epilog: Die Sächsische Zeitung titelt heute, am 10.10.: "Wirbel um Köhler-Rede in Leipzig". Im Artikel heißt es, daß Köhler falsche historische Details genannt haben soll, z.B. sprach er von bereitgehaltenen Leichensäcken ...

Epilog 2: In Leipzig hat sich am Freitag eine "Stiftung Friedliche Revolution" gegründet, deren erklärtes Ziel es ist, das Engagement für demokratische Veränderungen in der Gesellschaft fortzuführen. Lesenswert ist die Charta dieser Stiftung.

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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