Was wir nicht zustande gebracht haben, müssen wir überliefern/Bloch

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Zu Volker Brauns Erzählung "Die hellen Haufen"

„Der Aufstand, von dem hier berichtet wird, hat nicht stattgefunden“ – dieser Eingangssatz von Volker Brauns eben bei Suhrkamp erschienener Erzählung „Die hellen Haufen“, die die fiktiven Ereignisse in einem Ort namens Bitterode zum Gegenstand hat, könnte als Motto fürs Ganze stehen. Indes findet sich eine sinnverwandte Sentenz des Philosophen Ernst Bloch dem Band vorangestellt: Was wir nicht zustande gebracht haben, müssen wir überliefern.

Erzählt wird die Geschichte eines Aufstandes von Entlassung bedrohter Bergarbeiter und Beschäftigter anderer Industriezweige zu Beginn der 90er Jahre in Ostdeutschland. Die Geschichte, die so nicht stattgefunden hat, nimmt in Bitterode ihren Anfang. Den Hintergrund bilden die nach der Wiedervereinigung von der Treuhandanstalt vollzogenen Privatisierungen und Stillegungen vormals volkseigener Betriebe, in deren Folge Millionen ihren Arbeitsplatz verlieren sollten. Auch der eigentlich rentabel wirtschaftende Kalibergbau von Bitterode ist nun von Verkauf und Schließung bedroht, marktbeherrschenden Konzernen geht es allein um Marktbereinigung, und so organisieren die Kalikumpel einen Hungerstreik, der landesweit Solidarisierungen zeitigt, brechen zu einem Marsch in die Bundeshauptstadt auf, wagen den Aufstand. Einen Aufstand, der jedoch niedergeschlagen wird, weil sie viel zu wenige und ungenügend organisiert, nur ein Haufen ... und er von vornherein aussichtlos? Im Erzähltem mitschwingend die Frage, was geworden wäre, wenn ...

Natürlich sieht man sich sofort an Bischofferode erinnert, an den über 80 Tage währenden Kampf der Bergarbeiter 1993 um den Erhalt ihres Salzbergwerks, an jene Männer und Frauen, die im Hungerstreik ausharrten, bis die thüringische Landesregierung schließlich einlenkte, großzügige Abfindungen versprach, andere Arbeitsplätze. Und tatsächlich wurden in Zusammenhang mit diesen Vorgängen Befürchtungen laut, Bischofferode könnte Schule machen und in ganz Ostdeutschland einen „Flächenbrand aus Betriebsbesetzungen und Hungerstreiks“ nach sich ziehen, so das Wochenmagazin focus im Juli 1993. Von einem Betriebsrat des Suhler Jagd- und Sportwaffen GmbH wird gar der Ausspruch überliefert: „Wenn unsere Betriebe geschlossen werden, verteilen wir unsere Waffenvorräte“. Und tatsächlich formierte sich im Sommer 1993, als das Gros der DDR-Betriebe von der Treuhandanstalt schon privatisiert oder „abgewickelt“ worden war, was allein in Thüringen das Aus für 74% der Beschäftigten in der Industrie bedeutete, ein Aktionsbündnis aus Belegschaften geschlossener und von Schließung bedrohter Thüringer Betriebe, das sich bis nach Sachsen ausweiten sollte.

Ein durchgehendes Thema bei Braun bildet – man denke nur an „Machwerk“ oder „Die Vier Werkzeugmacher“ – die Eigentumsfrage und die nach der Verfügungsgewalt (auch über das eigene Leben), der Verantwortlichkeit, der Sinngebung, die eine eminent politische ist und die Frage nach den Möglichkeiten für den Einzelnen in der Gesellschaft mit einschließt – „Eigentümer, so hatten sie sich nie gesehen“ heißt es an einer Stelle (S. 33), was impliziert: eben auch nicht zu der Zeit, als die Betriebe nominell volkseigen gewesen. Schon in „Das ungezwungene Leben Kasts“ von 1972, in dem drei Lebenssituationen des Titelhelden im Mittelpunkt stehen, begegnet man, in anderer Weise, dieser Perspektive. Da ist zu lesen: „Vieles wird noch wie ein fremder Besitz behandelt: auch das Leben.“

Volker Brauns hochverdichtete Erzählung macht deutlich, daß Geschehenes wie Ungeschehenes etwas zur Vorbedingung haben, das weit in die Geschichte zurückweist ... Das Ungeschehene, Ungesehene, gleichsam weiße Flecken, die es zu erkunden gilt.

Nicht zuletzt Titel und Personnage des Buches gemahnen an die Bauernkriege des 16. Jahrhunderts, an Protagonisten wie Thomas Müntzer im Thüringischen oder Florian Geyer, die bald nach Ende des Aufruhrs gegen drückende Abgaben und feudale Abhängigkeitsverhältnisse zu Legenden gerannen. Letzterer war Anführer des militärisch straff organisierten Schwarzen Haufens Odenwalder Bauern mit entsprechenden Uniformen, dem sich nach und nach Gruppen aus anderen Orten zugesellten, sodaß er, zwischen acht- und zwölftausend Mann stark, schließlich Heller Haufen und unter der Führung Götz von Berlichingens auch Heller Lichter Haufen genannt wurde. Daß die Aufständischen, die Bauernheere, zeitweise große Landstriche unter ihre Herrschaft gebracht, Städte und Dörfer, darf als ebenso bekannt vorausgesetzt werden wie letztendlich ihr Scheitern. Der Helle Haufen erwies sich als wenig geordnet und diszipliniert, er zerbrach nicht nur an der Übermacht des Bundesheeres, sondern auch an inneren Widersprüchen ...

Volker Braun: Die hellen Haufen. Erzählung. Suhrkamp Verlag Berlin, 2011.

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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