Regiedebüt von Milena Aboyan: Die klinisch restaurierte Unschuld

Kino Das Drama „Elaha“ erzählt vom Alltag einer jungen Deutsch-Kurdin, die zwischen Anpassung und Ausbruch laviert. Ein Film mit einer klaren Botschaft: Gegen das Patriarchat und für Gleichberechtigung
Ausgabe 47/2023
Elaha (Bayan Layla) tanzt mit Freundin Berivan (Cansu Leyan)
Elaha (Bayan Layla) tanzt mit Freundin Berivan (Cansu Leyan)

Foto: Christopher Behrmann/Kinescope

Dass die 22-jährige Elaha (Bayan Layla) gleich zu Beginn, wie im Verlauf des Films mehrmals, direkt in die Kamera schaut, ist konsequent. Denn Elaha, das Regiedebüt von Milena Aboyan, ist ein Film der Blicke. Immer wieder geht es darum, wer wen in welcher Situation sieht und welche Schlüsse daraus gezogen werden. Was denken die Traditionalisten in ihrem Umfeld, wenn die kurz vor der Hochzeit stehende Deutsch-Kurdin Elaha nachts mit ihren Freundinnen vor einer Disco steht? Was, wenn sie auf der Hochzeit einer Freundin ausgelassen tanzt? Was, wenn sie nicht zur Totenwache eines verstorbenen Nachbarn kommt?

Die Hüterin der Blicke und der familiären Fassade ist Elahas strenge, traditionell konservative Mutter (Derya Durmaz). Deren Lebensmotto bringt der Vater auf den Punkt: „Der Schaden, der die Herde trifft, ist eine Schande für den Hirten.“ Der Mann auf Jobsuche weiß nichts, wie sonst auch niemand in dem sozialrealistisch gefilmten Drama, von Elahas Geheimnis: Die junge Frau hatte bereits Sex, aber nicht mit ihrem Verlobten.

Ein großes Problem in einem Milieu, in dem Frauen von den Konservativen entweder als gleichermaßen heilig oder als Hure betrachtet werden. Verstörenderweise fordern die Eltern des Verlobten sogar, dass Elaha sich von einem Arzt „untenherum“ auf ihre Reinheit hin untersuchen lässt.

Tradition und Moderne prallen in Aboyans Film folgenschwer aufeinander. „Der Eingriff sollte so sieben Wochen vor dem Geschlechtsakt passieren“, erklärt eine Ärztin Elaha, die sich ihr Hymen, ihr Jungfernhäutchen, plastisch-chirurgisch rekonstruieren lassen will. Wie absurd dieses Unterfangen ist, bringt eine andere Ärztin auf den Punkt: Nicht jede Frau habe von Geburt an das dünne Stück Gewebe.

Ein Schrei ins Kissen

Kameramann Christopher Behrmann hat den Film, der auf der Berlinale 2023 im Rahmen der inzwischen abgeschafften Sektion Perspektive Deutsches Kino Weltpremiere feierte, im klassischen 4:3-Format gedreht. In der Enge des Bildes spiegelt sich die Enge der Konventionen wider, unter der Elaha leidet – auch in der familiären Wohnung, in der sich die Türen nicht absperren lassen und die Mutter manchmal plötzlich im Badezimmer steht. In einer schönen Szene, in der die junge Frau einmal kurz allein zu Hause ist, versucht sie, sich selbst zu befriedigen, muss aber abbrechen, als jemand heimkommt. Ihr wütender Schrei ins Kissen ist völlig nachvollziehbar.

Aus nächster Nähe blickt Milena Aboyan in ihrem Abschlussfilm für die Filmakademie Baden-Württemberg auf ihre Heldin, man wartet die ganze Zeit darauf, dass die junge Frau endlich ausbricht. Die Theaterschauspielerin Bayan Layla verkörpert Elaha bei ihrem Kampf um sexuelle Selbstbestimmung brillant zwischen Unsicherheit und emanzipatorischer Schlagkräftigkeit.

Einige Dialoge mögen hölzern wirken, und manches wird mit einem gewissen Hang zur Didaktik allzu deutlich ausgesprochen, aber dennoch ist Elaha ein gelungenes Debüt. Das liegt einerseits am Thema, von dem auf diese Weise wohl noch nie im deutschen Kino erzählt wurde, und andererseits an der Ambivalenz, die sich Aboyan bewahrt.

Sie erzählt nicht einfach eine klassische Emanzipationsgeschichte, in der die böse Tradition überwunden werden muss, sondern beleuchtet die innerliche Zerrissenheit ihrer Heldin komplex und mit großer Konsequenz. „Ich liebe meine Familie und die Traditionen, ich bin nur mit manchen Regeln nicht einverstanden“, sagt Elaha einmal. Noch konkreter wird sie, als sie sich gegenüber ihren Freundinnen eine deutsche Vagina wünscht. Ein Stück Freiheit erlebt sie bei einem ehemaligen Häftling (Slavko Popadić), der sich als Sitter für ausgesetzte Hunde verdingt.

Interessant ist, dass der Film – apropos Blicke – Zuschauer:innen aus der Mehrheitsgesellschaft auf ihren eigenen Blick und ihre Zuschreibungen zurückwirft. Man ist, wie die Bewerbungstrainerin (Hadnet Tesfai), die Elaha zum Nachholen des Abiturs motiviert, schnell dabei, nur das Restriktive des Mikrokosmos zu sehen. Aboyan öffnet Augen, sie zeigt Schattierungen, anstatt Fronten zu verhärten, und bleibt dennoch sehr deutlich in ihrer Botschaft: gegen das Patriarchat und für weibliche Selbstbestimmung.

Eingebetteter Medieninhalt

Elaha Milena Aboyan Deutschland 2023, 110 Minuten

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