Rehabilitierung des Schreckgespenstes

Minderheitsregierung Die Minderheitsregierung führt ein unrühmliches Schattendasein als Schreckgespenst aus der Weimarer Republik. Höchste Zeit ihr eine Chance auf Rehabilitierung zu geben

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Auch mit einer Minderheit auf der Regierungsbank ließe sichs leben – und regieren
Auch mit einer Minderheit auf der Regierungsbank ließe sichs leben – und regieren

Foto: Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Bis Sonntagnacht interessierte sich in Deutschland kaum jemand für sie. Die Minderheitsregierung führte ein unrühmliches Schattendasein. Ihre Vorteile wurden nahezu ausschließlich in akademischen Zirkeln gewürdigt – wenn überhaupt. Doch damit ist nun Schluss. Die Minderheitsregierung feiert ein Comeback – zumindest in den Kommentarspalten der großen Tageszeitungen. Höchste Zeit ihr auch im wahren Leben eine Chance auf Rehabilitierung zu geben.

Minderheitsregierungen geistern „als Schreckgespenst durch die Köpfe des kollektiven Politikergedächtnisses.“ So befand zumindest der Politologe Stephan Klecha in seinem Standardwerk zu Minderheitsregierungen in Deutschland. Die Erfahrungen der Weimarer Republik lassen Minderheitsregierungen in der Tat nicht gerade in einem besonders rosigen Licht erscheinen: Zwölf Weimarer Minderheitssregierungen stehen als Paradebeispiel für ausgesprochen unerfolgreiches Regieren bereit. Aber Weimar ist lange her. Und Skandinavien dient Deutschland als deutlich besseres Beispiel. Hier spielen Minderheitsregierungen seit Jahrzehnten eine durchaus rühmliche Rolle – von einer Rolle als Schreckgespent sind sie in jedem Fall weit entfernt. Und auch der Blick in die Bundesländer taugt nicht zum Gruseln: Zwei von den hier ins Amt gekommenen Minderheitsregierungen – nämlich die beiden SPD-geführten und als Magdeburger-Modell bekannt gewordenen Regierungen in Sachsen-Anhalt von 1994 bis 1998 bzw. von 1998 bis 2002 – überdauerten ihre gesamten Legislaturperioden als Regierungen ohne eigene Mehrheit.

Und auch eine letztendlich zwar gescheiterte aber nahzu zwei Jahre lang im Amt verweilende Minderheitsregierung sollte nicht dem kollektiven Gedächtnisverlust zum Opfer fallen: Die von Hannelore Kraft als Ministerpräsidentin geführte rot-grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen. Von Sommer 2010 bis zum Frühjahr 2012 konnte die NRW-Minderheitsregierung immerhin nicht nur gemeinsam mit der Linken Wohltaten verteilen, sondern auch mit CDU und der FDP erfolgreich Kompromisse aushandeln. Insbesondere mit dem von den Medien als „großer Wurf“ bezeichneten Schulkonsens mit der CDU konnte sie sich beweisen – und die jahrelang bestehende Lagerpolarisierung in der Schulpolitik zumindest zeitweise überwinden. Gelang es der Kraftschen Minderheitsregierung wechselnde Mehrheiten zu generieren und etliche ihrer Vorhaben parlamentarisch umzusetzen – warum sollte eine Merkelsche Minderheitsregierung nicht zu ähnlichem in der Lage sein?

Natürlich sind die auf Bundesebene herrschenden Zwängen, Logiken und vor allem die politischen Herausforderungen andere als im vergleichsweise gemütlichen NRW. Aber Merkel ist auch nicht Kraft. Mit ihrer Meinungsflexibilität, dem ungerührten Kapern sozialdemoratischer Positionen und dem viel gescholtenen Pragmatismus ist Merkel die nahezu ideale Besetzung für eine Rolle als Kanzlerin einer Minderheitsregierung. Ihre auf die Spitze getriebene Mittigkeit dürfte in Kombination mit langjähriger Erfahrung im Händeln renitenter CSU-Vorsitzender ein Glücksfall für jede Regierung ohne eigene Mehrheit sein. Und warum sollten nicht auch die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen letztendlich zum Glücksfall werden? Und zwar für für die bundesdeutsche Demokratie. Ein aufgeweckterer parlamentarischer Diskurs und eine steigende Bedeutung des Parlaments bis hinunter zum einzelnen Abgeordneten dürften dieser jedenfalls kaum schaden. Vor allem aber ist es an der Zeit einen Protagonisten endlich zu rehabilitieren: das Schreckgespenst Minderheitsregierung. Weimar ist lange genug her.

Klecha, Stephan: Minderheitsregierungen in Deutschland, Hannover 2010, online unter: http://library.fes.de/pdf-files/bueros/hannover/08122.pdf

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