Ägäis mit Levante und einem Hauch Nordafrika

Der Koch Yotam Ottolenghi entwickelt Rezepte, die nach dem transkulturelle Europa der Zukunft schmecken. Er ist der Kulturbotschafter unter den Köchen
Ausgabe 45/2014
Lecker ... Ein Ottolenghi-Gericht
Lecker ... Ein Ottolenghi-Gericht

Foto: Dave Kotinsky/ AFP/ Getty Images

Was hat er, das ich nicht habe? Als ich abends nach Hause kam, lag ein neues Kochbuch auf dem Tisch, versehen mit Haftnotizen, die wie ein kleiner Palisadenzaun zwischen den Deckeln hervorragten. Als ob dieses Buch schon Wochen und Monate Benutzung hinter sich gehabt hätte und bereits tausendmal daraus gekocht worden wäre.

Dabei hatte ich es noch nicht ein Mal aufgeschlagen. Aber meine Lieblingsesserin. Und alle Rezepte angemerkt, die sie interessant fand – fast ein Viertel des Buchs. Der Autor: Yotam Ottolenghi. Das Signal war klar. In den nächsten Wochen hatte ich aus diesem Buch zu kochen, mindestens so lange, bis die Seiten von Olivenöl und Tomaten befleckt, mit Anmerkungen und Eselsohren versehen waren und so aussahen wie alle übrigen Ottolenghi-Bücher. Die Haftnotizen gaben eine Vorahnung davon. Na toll. Ich wehrte mich noch ein paar Tage, aber mein Schicksal als Küchensklave stand fest.

„Du, was hältst du heute Abend von in Portwein geschmortem Hähnchen?“ – „Das klingt aber gar nicht nach Ottolenghi“, sagte meine Lieblingsesserin und deutete auf das Buch. So ähnlich entspann sich alle folgenden Tage der Dialog, wenn es um die Essenplanung ging, und weder mit Restauranteinladungen noch Drohungen, den Herd zu boykottieren, konnte ich daran was ändern. Ich hatte Ottolenghi zu kochen.

Und sie hat ja recht: Der Mann hat tatsächlich viel, was ich nicht habe. Ich schwärmte an dieser Stelle schon von ihm: ein Koch mit deutsch-italienischen Wurzeln, in Israel aufgewachsen, der in London lebt. Man kann es Mittelmeerküche nennen, was er macht, in einem ganz umfassenden Sinn, denn die meisten Menschen verstehen darunter nur italienische, französische und vielleicht noch ein paar spanische Rezepte.

Ottolenghi fügt die Ägäis, die Levante und den ganzen nordafrikanischen Raum hinzu, mit all seinen Aromen und Gewürzen. Heraus kommt ein Geschmack, der schon heute dem Europa entspricht, zu dem sich der Kontinent vielleicht in den nächsten Jahren entwickelt, wenn weiterhin so viele Migranten aus Kleinasien und Afrika nach Norden drängen. Für mich ist dieser Mann ein Kulturbotschafter. In seinem neuen Buch Vegetarische Köstlichkeiten, von dem hier die Rede ist, macht er zwar auch viele Ausflüge in den asiatischen und indischen Raum. Aber er findet auch dort Gerichte, die seiner kulinarischen Linie entsprechen.

Natürlich kann er kochen. Er hat mir eine völlig neue Sicht auf die Aubergine geschenkt. Dass man dieses Gemüse der größten Hitze aussetzen darf, um ein süßlich-rauchiges Aroma zu erzeugen. Er hat mich für Safran begeistert, für Kreuzkümmel und in Salz eingelegte Zitronen, für Granatäpfel und Pistazien.

Mindestens einmal im Jahr kommt mir ein Kochbuch unter, das ich wochenlang nicht weglege. Erst halte ich mich genau an die Anleitungen, dann entferne ich mich von ihnen. Man muss Fehler machen, um den Stil eines Kochs zu erfassen. Aus dem Kochbuch wird dann so etwas wie eine Partitur, die man interpretiert. Denn was soll’s: Wie es genau schmeckt, wenn der Autor seine Gerichte kocht – wer weiß das schon?

Diese Köche heißen Jamie Oliver, Marc Veyrat oder Giorgio Locatelli. Auch mit Fuchsia Dunlop habe ich viel gekocht, niemand kennt die chinesische Küche besser. Und selbstverständlich mit Ottolenghi.

Nun werde ich es also ein weiteres Mal mit ihm versuchen, unfreiwillig, aber nicht ungern. Mal sehen, ob er sich weiterentwickelt hat. Und wie lange ich brauche, bis der Dialog mit meiner Lieblingsesserin so geht: „Du, wie wär’s mal wieder mit einer Minestrone?“ – „Von Ottolenghi?“ – „Nach Ottolenghi. Aber fast so gut.“

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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