Eine edle Französin

Koch Warum zuzelt der Bayer an der Weißwurst? Weil sie gar nicht von dort stammt, sagt der Koch und erklärt, warum eine eigene Kultur entstand, sie sich einzuverleiben

Es ist auch in meinen Augen die unappetitlichste Art, eine Weißwurst zu essen. Sie geht so: Sie nehmen die Wurst in die Hand, beißen sie an einem Ende auf, tunken sie in süßen Senf, nehmen sie in den Mund, schließen die Lippen fest um sie, die Zähne dafür umso gefühlvoller und ziehen die Wurst wieder aus dem Mund. Zuzeln nennt das der Bayer und grinst, wenn nach solchem Verzehr die leere Wurstpelle mit einem benutzten Kondom verglichen wird.

Nördlich des Weißwurst-Äquators können sich wenige ekelhafteres Verhalten am Tisch vorstellen – außer vielleicht spuckende Chinesen. Südlich davon gilt das Zuzeln, eine Saugtechnik, die sonst nur für Knutschflecken zum Einsatz kommt, dagegen als das Non-plus-Ultra. Warum, möchte ich Ihnen erklären: Die Sitte, eine Weißwurst mit den Fingern zu essen, hebt nicht den Genuss, sondern geht auf die vergessene Geschichte dieses Gerichtes zurück.

Die offizielle besagt, dass die Weißwurst im Jahr 1857 von dem Metzger Sepp Moser in der Gaststätte „Zum Ewigen Licht“ am Münchener Marienplatz per Zufall erfunden wurde. Am Rosen­montag, dem 22. Februar 1857, ­sollen ihm die Schafsdärme ausgegangen sein, während die Faschingsgäste hungrig warteten. Er hatte nur Schweinsdärme auf ­Lager, die zu zäh und zu groß für Bratwürste sind. Moser hatte keine Wahl, briet die Würste jedoch nicht, sondern brühte sie in ­heißem Wasser, weil er glaubte, dass die Schweinedärme beim ­Braten platzen könnten.

Ungereimtheiten in der Herkunftslinie

Diese Geschichte soll einige Dinge belegen, nämlich die Münchner Herkunft der Weißwurst, außerdem ihre Volkstümlichkeit, denn die Gaststätte „Zum ewigen Licht“ war ein Lokal, das von kleinen Droschkenkutschern und Tagelöhnern besucht wurde. Sie liefert auch die Begründung, warum der Wurst vor dem Verzehr die Haut abgezogen gehört. Doch daran sind Zweifel angebracht, wie der Weißwurst-Historiker Peter M. Lill herausgefunden hat. Erstmal ist die Geschichte vom Mosersepp erst um 1930 rum entstanden, und ein Blick ins Müncher Stadtarchiv zeigt, dass er im Jahr 1857 mitnichten Pächter der Spelunke war.

Es sind solche Ungereimtheiten, die die andere Herkunftslinie der Weißwurst viel plausibler machen. Die führt nach Frankreich, dort hat eine ganz ähnliche Brühwurst, die Boudin blanc eine noch längere Geschichte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Franzosen – Bayern war Anfang des 19. Jahrhunderts ein enger Verbündeter Napoleons – sie an die Isar brachten. Sieht man sich die Rezepte an, kommt man nicht umhin zu sagen: Die Weißwurst ist eine Französin. Und nicht nur das – sie muss ein Luxusprodukt gewesen sein, das damals nur bestimmten Ständen vorbehalten war. Die Weißwurst war edel, teuer und rar.

Ein Indiz ist ihre Farbe: Weiß zu essen, war seinerzeit ein Spleen gehobener Adelskreise. Blanquette de Veau, ein weißes Kalbsragout, wie auch Blancmanger, ein Pudding aus Hühnerfarce und Mandeln, sind typische Rezepte dieser alten Tradition, in der, wie heute bei der Molekularküche, mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln versucht wurde, Essen so aussehen zu lassen, als sei es kein Essen.

Keineswegs ein Alltagsgericht

Teuer und rar! Dafür spricht, dass das Rezept selbst nicht ohne ist. Die Wurstmasse enthält nicht Hirn wie viele denken, sondern zum großen Teil bestes Kalbfleisch, außerdem Muskat und Zitronenschale, seinerzeit so exotische Gewürze wie heute vielleicht schwarzes Hawaii-Salz. Für die Lockerheit wird bei der Zubereitung auch noch gestoßenes Eis mit in die Masse gerührt. Wie aufwändig! Und dann: Die Weißwurst ist schnell verderblich. In Zeiten ohne Kühlschrank musste sie vor dem 12-Uhr-Läuten gegessen werden. Da fällt mir als Vergleich nur Sushi ein, heute bekanntlich auch ein absolutes Alltagsgericht. Nein, Weißwurst war immer etwas besonderes. Wussten Sie, dass sie in vielen bayrischen Haushalten bis heute ein Weihnachtsessen ist?

Einzig mögliches Fazit also: Vergessen Sie die Moser-Geschichte, die Weißwurst brauchte lange um in die bayerische Küche Eingang zu finden. Die Fasson der Großkopfeten, die sie manieriert mit Messer und Gabel entkleideten, wollte der Bayer nicht auch noch übernehmen. Eine Wurst hatte man mit den Fingern zu essen. Basta! Die Weißwurst auszuzuzeln, war eine besonders schöne Form, die Obrigkeit zu derblecken. Und heute die Preißen. So siehts aus.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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