Wie isst man eine Salzkartoffel?

Koch oder Gärtner? Bei der Knolle des Nachtschattengewächses namens Kartoffel wirkt die Kinderstube des Kochs nach: Landet sie auf seinem Teller, hat das Messer Pause. Warum eigentlich?

Wenn ich gelernt habe, etwas richtig zu essen, dann ist das die Kartoffel. Meine Großmutter war da pingelig. Die gelben Knollen durften nicht geschnitten werden – und zerdrückt ... höchstens mit der Gabel, wurde mir beschieden. Kam das Messer nur in die Nähe einer Kartoffel, hörte ich ein strenges „Vorsicht, das macht man nicht.“ Sie fragen sich, warum? Ich frage es mich bis heute. Aber so waren die Mahlzeiten in den Siebzigern in bürgerlichen Haushalten – Hochämter für die Salzkartoffel. Sie wurde behandelt wie ein rohes Ei.

Ich bin sicher nicht der Einzige, in dem darüber eine besondere Vorliebe zu Kartoffelprodukten erwachte. Weil man Pommes mit der Hand essen, Chips sich so richtig in den Mund stopfen und Kartoffelpüree nicht nur gabelweise mit Bratensauce verrühren darf. Matschen nannten wir das, was am Tisch zwar auch nicht gern gesehen wurde, aber eine Verbotsvorschrift fand sich im Knigge der Familienhistorie auch nicht. Trotzdem: ­Meine Kinderstube ist weiter mächtig. Für eine gekochte ­Kartoffel nehme ich noch immer kein Messer zur Hand.

Woher stammt die Sitte, die Knolle eines Nachtschattengewächses mit so viel respektabler Demut zu behandeln? Vielleicht hilft ein Blick in ihre Geschichte: Die Kultivierung der papa durch die Inkas, ihre große Fahrt von Südamerika nach Europa – wo sie Jahrzehnte als Zierpflanze geschätzt wurde – und das Anbaudekret Friedrich II., was die Kartoffel zum preußischen Gemüse schlechthin machte: Alles hinlänglich bekannt. Doch damit begann die Geschichte eigentlich erst, wie man einem sehr lesenswerten Buch von John Reader entnehmen kann (leider nur auf Englisch: The Untold History of the Potatoe, 315 S.,Vintage, London 2009 ). Er hat eher eine Wirtschaftsgeschichte als eine Kulturgeschichte geschrieben und erzählt, ohne die Kartoffel wäre der Übergang ins Industriezeitalter in Europa kaum möglich gewesen. Sie war mindestens ein wichtiger Katalysator.

Revolutionäre Kraft

Adam Smith, nach ihm übrigens auch Friedrich Engels, erkannte auf Anhieb das gewaltige Potenzial des Nahrungsmittels, das 1776, als er Wohlstand der Nationen schrieb, nur als besseres Tierfutter angebaut wurde. Seine Unmengen an Kohlehydraten ermöglichten ab etwa 1800 nicht nur eine gewaltige Bevölkerungszunahme auf dem gesamten Kontinent, sondern sicherten anschließend auch den Abschied von der agrarisch geprägten Gesellschaft, die Ernährung der Fabrikarbeiter. Wie groß die Abhängigkeit von der Kartoffel war, zeigte die große Hungersnot in Irland von 1845 – die aus den USA eingeschleppte Kartoffelfäule führte längst nicht nur auf der Insel zu verheerenden Missernten, Armut, Hunger und Auswanderung. Bemerkenswert: Das Ende einer ziemlich revolutionär gestimmten Dekade in Europa fiel zeitlich mit dem Sieg über die Kartoffelkrankheit zusammen. Vergesst doch die Antike oder Karl den Großen, will man nach der Lektüre von Reader ausrufen, für die Geschichte Europas war diese Knolle viel wertvoller. Ja, es stellt sich sogar die Frage, wäre der Nährwert des Gemüses früher erkannt worden, hätte dann die industrielle Transformation des Kontinents eher eingesetzt? Ein faszinierender Gedanke.

Wäre es auf diesem Hintergrund vermessen zu sagen, mit dem Verzehr von solanum tuberosum oder eines Erdapfels, wie der Österreicher sagt, nehmen wir auch geistige Nahrung auf – wie übrigens mit allem, was wir uns so in den Mund stecken? Natürlich nicht. Wir erwecken mit den Aromen Erinnerungen aus schönen, alten Kindertagen neu, wir beleben aber auch ein kollektives Gedächtnis. Mit der Kartoffel auf dem Teller ist die Historie immer Beilage, das Messer bleibt bei mir also weiter tabu.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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